Die Asche der Erde
Menschen im Zentrum«, erwiderte Mischa in Erinnerung an die Besuche der Händler in der Stadt, wenn sie ihre Marktstände aufschlugen und Menschentrauben die weitgereisten Märchenerzähler umlagerten. »Sie machen sich nicht viel daraus, ob jemand anders ist.«
»Mischa, die Wüste gehört ihnen, und die Höhlen gehören uns. Wir finden uns damit ab. Es hat keinen Sinn, einen besseren Ort für uns zu suchen.«
»Ich verstehe nicht, warum du sie fürchtest; es gibt sonst nichts auf der Welt, was dich schreckt ....«
»Wir werden nicht mehr darüber sprechen«, sagte Val in dem abweisenden Ton, den Mischa mittlerweile kennen und respektieren gelernt hatte.
»Wer bist du?« fragte sie unvermittelt.
Val runzelte die Stirn.
»Ich meine, wer warst du? Im Zentrum?«
»Du hast mich nie gesehen. Als ich vertrieben wurde, warst du noch nicht auf der Welt, oder kaum geboren.«
»Mir ist endlich eingefallen, wem du ähnlich siehst.« Val blieb still.
»Man sieht sie selten in der Öffentlichkeit, aber ich bin einigen von ihnen begegnet. Deine Familie betreibt den Reaktor.«
»Ja«, sagte Val. »Ich war eine große Peinlichkeit für sie.«
Mischa hatte nie gehört, daß die einflußreichen Familien ihre Kinder genauso verstießen, wie die Armen es zu tun pflegten. Wie alle anderen hatte sie angenommen, daß diese reichen Leute irgendwie immun gegen Erbschäden seien. »Du benimmst dich nicht wie sie.«
»Früher tat ich es.« Sie strich über das dichte feine Haar auf ihren Schultern; es bedeckte ihre Arme und ihren Rücken und wahrscheinlich auch den Rest ihres Körpers wie das Fell eines Tieres. »Zuerst waren die Haare ganz fein und dünn, doch als ich in die Pubertät kam, fing es an zu wachsen und wurde, wie es jetzt ist. Es war mir schrecklich, aber zuerst dachte ich, ich könnte es verstecken. Ich zupfte das Haar aus, aber es kam wieder. Damals lernte ich, was es heißt, machtlos zu sein.«
»Und deine Leute entdeckten es und jagten dich fort?«
»Nicht gleich. Ich hatte mir angewöhnt, mich zu rasieren, aber da ich nicht alle Stellen erreichte, kam es schließlich heraus. Sie legten mich in Fesseln, bis das Haar nachwuchs, und dann wußten sie Bescheid ... Ich glaube, ich kann noch von Glück sagen.«
»Von Glück!« Mischa stellte sich vor, wie es gewesen sein mußte: tagelang in Erwartung des Unausweichlichen, tagelang in Fesseln liegend, verflucht von Angehörigen und Verwandten ...
»Meine Cousinen entdeckten es zuerst. Wären meine direkten Angehörigen zuerst daraufgekommen, so hätten sie einen Unfall arrangieren können. Aber nachdem die Cousinen es wußten, konnte man mich nicht auf eine elegante Art loswerden. Meine Angehörigen hätten das Gesicht verloren, wenn sie die Ermordung eines ihrer Kinder zugelassen hätten. Noch dazu ihrer Erstgeborenen.«
Val erzählte die ganze Geschichte ohne erkennbare Gemütsbewegung. Sie hatte den brutalsten sozialen Abstieg erleben müssen, den man sich denken konnte, und sie hatte überdauert. Es war nicht Tod noch Verfolgung, was sie fürchtete, wenn sie eine Abneigung zeigte, über das Zentrum zu sprechen, sondern die Demütigung.
»Komm!« sagte sie. »Hilf mir das Tier tragen.«
13
Mischa pflückte schwammähnliche Pilze vom Ufer eines stinkenden Wasserlaufes und warf sie Krabbe zu, der sie auffing und in den Mund steckte. Mischa schüttelte sich, als er sie schmatzend verzehrte. »Wenigstens hättest du sie vorher in sauberem Wasser waschen können.«
Der Wasserlauf ergoß sich einige zwanzig Schritte weiter in einen Riß, der ein erst vor Stunden von Mischa erkundetes unterirdisches Kliff durchzog. Sie betrieb ihre Forschungen systematisch mit dem Ziel, Fluchtwege und Verstecke zu planen. Noch immer rechnete sie mit einer großangelegten, von Subeins und Subzwei geleiteten Suchaktion, obwohl viele Zeitabschnitte, die nach ihrem Gefühl Tagen entsprachen, ereignislos vergingen, ohne verdächtige Geräusche oder die Wahrnehmung fremder Annäherung. Obwohl seit langem niemand vom Zentrum gekommen war, um Jagd auf sie zu machen, blieben die Bewohner des Untergrunds stets wachsam, und Mischa nahm sich ein Beispiel an ihrem immerwährenden Argwohn. Im übrigen konnte sie nur warten und hoffen, daß die Verfolger nicht kommen würden, bevor Jan wiederhergestellt war.
Sie und Krabbe stopften die geernteten Schwämme in einen Sack und machten sich auf den Rückmarsch zu Vals und Simons Höhle. Sie begegneten niemandem. Die Bewohner des Untergrunds
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