Die Asche der Erde
Sie verstand sein Lächeln nicht.
Da seine Hände bandagiert waren, konnten Daumen und Zeigefinger einander nicht berühren, und so mußte er die blaßrosa Fische zwischen die ersten beiden Finger seiner rechten Hand stecken. Er aß langsam, noch im Liegen, das Kinn auf den rechten Unterarm gestützt. Mischa hätte ihn gefüttert, aber er schien allein zurechtzukommen. »Sie sind uns nicht gefolgt«, sagte er.
»Noch nicht.«
Jan hörte auf zu essen, bevor er alle Fische verzehrt hatte. Selbst die geringe Anstrengung des Essens erschöpfte ihn. Er ruhte aus, die Wange auf den Arm gebettet. Mischa glaubte, daß er schliefe, doch nach einer Weile öffnete er die Augen und . blickte im Schein der Lichtzellen umher, betrachtete die tiefen Schatten der Spalten, die im Licht plastisch hervortretenden Felsvorsprünge, um endlich wieder die Augen zu schließen. »Es ist dunkel hier unten«, sagte er.
Mischa sorgte sich um sein Augenlicht. Ihre Erfahrung in der Deprivationszelle erlaubte ihr nachzufühlen, wie ihm in völliger Dunkelheit zumute sein mußte, und das war eine schreckliche Vorstellung. Sie zündete die Karbidlampe an, die Krabbe gefunden und geborgen hatte. Die strahlende Helligkeit schien ihn zu beruhigen. Er lag still, und sein langsames Atmen war das einzige Geräusch in der Höhle.
»Bleib eine Weile und rede mit mir«, sagte er.
»Sie sollten schlafen ...«
Er blickte auf. »Wir müssen einmal reden, Mischa. Ich muß wissen, was geschehen ist.«
»Ich weiß es nicht«, log sie. »Ich war verwirrt. Er litt so starke Schmerzen ....« Sie brach ab, und er sagte nichts. Aber die schmalen ‚senkrechten Furchen zwischen seinen Brauen vertieften sich. Sie konnte ihn belügen, und er würde sie nicht schelten. Aber er würde es merken.
»Also gut«, sagte sie. »Er zersprang wie Glas. Als er starb, blieb nichts von ihm übrig – er starb, weil nichts von ihm übrigblieb. Er konnte nirgendwohin gehen.« Sie saß mit untergeschlagenen Beinen und zupfte am ausgefransten Saum ihrer Hose. »Es ist keine Wahrheit, die Sie hören möchten.«
Jan starrte auf seine eingebundenen Hände.
»Sie sind so verrückt«, sagte Mischa ungeduldig. »Warum wollen Sie, daß ich Ihre Gefühle verletze? Wie können Sie ...«
Diesmal unterbrach er sie; er streckte den Arm nach ihr aus, und sie verstummte. »Was fühlte er, als er starb? Woran dachte er?«
Sie versuchte sich die Szene zu vergegenwärtigen, um antworten zu können. »Er dachte an nichts. Ich glaubte, er habe Angst, aber das war ich ... Er war müde, und er war ruhig. Sein Bewußtsein begann zu zerbrechen. Oder zu zerreißen, in Stücke, immer wieder, bis die Stücke zu klein waren, um noch Teil von ihm zu sein.« Die Erinnerungen waren sehr stark.
»Vielleicht ist es wahr ...«
»Was ?«
»Vergessen nach dem Tode. Nirwana. Ich hatte nie recht verstanden, was das sein könnte. Ich dachte immer, es müsse eine Art Bewußtsein des Zustandes damit verbunden sein, selbst wenn man es nicht Identitätsgefühl nennen kann.«
»Angeblich soll es nach dem Tode etwas geben«, sagte Mischa.
»Die Verrückten sagen es alle, diejenigen, die darüber nachdenken und die Vorstellung nicht ertragen können, daß es mit dem Tode aus ist. Ich hatte nie den Wunsch, so etwas zu glauben.«
»Ich auch nicht.« Er betrachtete seine verbundenen Hände. An einigen Stellen war frisches Blut durch die Bandagen gesickert. Mischa rückte näher, nahm seine Hand und wickelte die Bandagen ab. Sie fragte sich, ob sie irgend etwas gelöst habe, indem sie ihm erzählt hatte, was nach ihrer Erinnerung geschehen war. Er schien besser als sie zu verstehen; oder er gab es sich selbst gegenüber vor, als Selbstschutz. Beinahe wünschte sie, sie hätte gelogen. »Es tut mir leid ...«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, nicht der Ereignisse wegen, die uns hierher geführt haben. Nach dem Tode meiner alten Freundin mußte ich mit Subzwei brechen. Du hast das nur beschleunigt. Dies ...« – er hob die Hand, und Mischa wußte, daß er mehr als seine Verletzungen meinte –, ». ... alles das war ein Unfall.«
Mischa verband die tiefen Schnittwunden, so gut sie konnte. »Sie reden, als gäbe es keine persönliche Schuld an irgend etwas.«
Aus dem Tagebuch des Jan Hikaru:
Seit ich zu mir gekommen bin, hat mein Körper wenig mehr als Ruhegewünscht, obgleich ich nicht gut schlafe. Von welcher Art die messerscharfen kristallinen Bildungen, durch die ich fiel, auch gewesen sein
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