DIE ASSASSINE
dem Abend, an dem meine Mutter ermordet wurde. Nur einzelne Bilder, nichts von Bedeutung. Also ging ich mit der Frau.«
Bei den Erinnerungen spannten sich meine Kiefermuskeln. Ich hielt den Groll und den Schmerz zwar in mir, dennoch sickerte etwas davon in meine Stimme. »Nach ungefähr einem Jahr – ein Jahr, in dem ich mich gegen die anderen Kinder verteidigen und darum kämpfen musste, genug zu essen zu bekommen – erkannte ich, dass ich alleine besser dran war. Deshalb ging ich. Ich rannte weg, tiefer hinein in die Elendsviertel jenseits des Siels. Dort lebte ich wie ein Tier, wühlte mich durch Müllhaufen und aß alles, was ich finden konnte, sogar Brocken, die du und Borund nicht einmal an einen Hund verfüttern würden.Dann lief ich einem Straßenräuber namens Tauber und dessen Bande über den Weg. Sie zeigten mir, dass ich mich viel besser durchs Leben schlagen könnte, wenn ich mehr riskierte. Sie brachten mir bei, wie man überlebte, wie man raubte, wie man stahl, wie man schnell zuschlug, wie man fast unsichtbar bleiben konnte und wie man andere ablenkte. Letztes war meine Aufgabe in der Bande. Ich brauchte nur im Schatten einer Gasse zu sitzen und zu weinen – es kam immer jemand, um nach mir zu sehen.«
Ein Teil der Härte war aus Williams Augen gewichen, doch aus unerfindlichen Gründen fühlte ich mich dadurch nicht besser.
»Was geschah dann?«, fragte William nach einem Augenblick des Schweigens.
Ich wandte den Blick von ihm ab. »Einmal ging Tauber bei einem Hinterhalt zu weit. Eines der Opfer, eine Frau, ergriff die Flucht, und Tauber wollte ihr nachsetzen. Ich sagte ihm, dass ich ihm nicht helfen würde, die Frau zu fangen. Daraufhin verstieß er mich.« Ich zuckte zusammen, als ich noch einmal spürte, wie Taubers Faust mich traf, nachdem ich Nein zu ihm gesagt hatte. »Aber da spielte es keine Rolle mehr. Ich war fast elf und hatte alles gelernt, was ich wissen musste, um in den Elendsvierteln zu überleben.«
Völlige Stille hielt im Zimmer Einzug. Ich spürte Williams Blicke auf mir, schaute aber nicht auf. Seltsamerweise war der Zorn, den ich verspürt hatte, zusammen mit der Anspannung in meinen Schultern verschwunden. Als hätte es mich irgendwie von meiner Wut befreit, indem ich es William erzählt hatte.
»Warum hast du die Elendsviertel verlassen? Wie bist du zum Kai gekommen, wo wir dich gefunden haben?«
Ich schaute auf. Ich wollte ihm nicht von Blutmal und Erick erzählen, deshalb erwiderte ich nur: »Jemand hat mich zu weit getrieben. Und mir wurde letztlich klar, dass ich nicht mehr nur überleben wollte. Ich wollte etwas anderes.«
Und nun befand ich mich in derselben Lage, wurde mir klar. Ich wollte nicht mehr töten. Ich wollte etwas anderes.
William schwieg, während er zu begreifen versuchte. Schließlich sagte er: »Also bist du in den Elendsvierteln aufgewachsen?«
Ich lachte, doch es war ein freudloser Laut. »Ich habe in den Elendsvierteln überlebt «, erwiderte ich mit Nachdruck. »So gut ich konnte.«
»Aber … wie kannst du es tun? Wie kannst du …«
»Weil es das ist, was ich bin. Es ist alles, was ich weiß.«
Eine Pause entstand, und ich wandte mich abermals zum Gehen, als William mit deutlich weniger harter Stimme sagte: »Aber jetzt hast du eine Wahl.«
Ich seufzte. »Nein. Habe ich nicht.«
Damit ging ich.
Ich wartete vor dem Gesplitterten Bug in einer dunklen Seitenstraße, wo ich an der Mauer lehnte. Vor der Schänke flackerten und zischten Fackeln in der Brise, die vom Wasser herüberwehte. Über den Himmel zogen Wolken, die den Mond und die Sterne verhüllten. Winterwolken. Die Luft schmeckte nach Regen, kaltem Regen, doch er war noch fern. Alendor hatte die Schänke vor einer Stunde mit drei anderen Leuten betreten – einem anderen Händler, den ich in Carls Haus gesehen hatte, und zwei Männern, die ich nicht kannte. Ich wartete und versuchte, nicht an William, Borund, Erick oder den mehlweißen Mann zu denken. Ich versuchte, an überhaupt nichts zu denken, tauchte in den Fluss und trieb darin.
In der Seitenstraße wagte niemand, sich mir zu nähern. Eine Patrouille berittener Palastgardisten kam vorüber, doch die Männer sagten nichts, bedachten mich nur mit einem verächtlichen Blick, ehe sie abbogen und in Richtung des Palasts die Hauptstraße hinauf verschwanden.
Die Tür der Schänke schwang geräuschvoll auf, und ich löste mich von der Mauer, als Alendor auf die Straße trat. Aufrecht stand er da, einen Umhang über den
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