DIE ASSASSINE
die Regentin sie verlassen habe. So etwas hat es nie gegeben, ehe das Feuer durch die Stadt gefegt ist.«
Borund fühlte sich nach diesen Worten des Oberhofmarschalls sichtlich unbehaglich. »Warum erzählt Ihr mir das?«
Oberhofmarschall Avrell schwieg einen Augenblick; dann lächelte er verkniffen. »Weil mehr geschieht, als es den Anschein hat. Ginge es um die Regentin – nur um die Regentin –, so glaube ich, dass ich allein mit der Lage zurechtkäme. Doch in der Stadt spielt sich wesentlich mehr ab. Ihr selbst habt mir von dem Anschlag im Gebrochenen Mast und von den toten Händlern berichtet.«
»Ja.«
Der Oberhofmarschall nickte. »Ich hatte bis zu unserer Begegnung vor ein paar Wochen nichts davon gehört – jenem Abend, an dem Ihr im mittleren Kreis angegriffen und Euer Helfer – William, wenn ich mich recht entsinne – verwundet wurde.«
Schweigen trat ein, während Borund und Avrell einander musterten.
Schließlich fuhr der Oberhofmarschall fort: »Unter den Händlern ist eine Verschwörung im Gange, ein Versuch, die Herrschaft über den Handel in der Stadt an sich zu reißen, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem der Handel nicht nur in Amenkor, sondern überall an der frigeanischen Küste in Gefahr ist. Zuerst dachte ich, man könne es der Gilde überlassen, diese Sache zu klären. Aber nachdem ich vor ein paar Wochen in Eurem Haus mit Euch geredet hatte …«
Er ließ den Gedanken unausgesprochen, doch Borund griffden Faden auf. »Ihr denkt, dass diese Verschwörung – ich bezeichne sie als Kartell – sich in den Palast hinein erstreckt.«
»Kartell«, murmelte der Oberhofmarschall, als spräche er das Wort zum ersten Mal aus. Er lächelte. »Gefällt mir. Ja, ich denke, dieses Kartell umfasst mehr als ein paar Händler und hat Verbindungen in den Palast. Insbesondere glaube ich, dass Baill, unser guter Hauptmann der Palastgarde, diesem Kartell angehört.« Beim Namen des Hauptmanns schlich sich Abscheu in Avrells Stimme.
Auch Borunds Züge verfinsterten sich. Er griff nach dem bislang unberührten Weinglas, trank einen Schluck und runzelte nachdenklich die Stirn. Der Oberhofmarschall lehnte sich auf seinem Sitz zurück und wartete.
Schließlich blickte Borund in meine Richtung.
Ich tauchte tief in den Fluss, verlagerte die Strömungen auf Borund und wandte mich dem Oberhofmarschall zu. In den sich kräuselnden Wirbeln zeichnete er sich grau ab.
Als ich aus dem Fluss auftauchte, spürte ich, wie etwas an der Strömung zerrte, hörte undeutlich ein Geräusch wie das trockene Schaben von Laub, das über Stein geweht wird, wie eine Stimme … viele Stimmen. Doch es verebbte.
Ich nickte Borund zu, und Avrell beobachtete den Austausch der Gesten aufmerksam. Er schwieg zwar, doch sein Blick wurde eindringlicher als zuvor.
Ich setzte mich zurück und tauchte erneut in den Fluss, doch das Geräusch von Laub war verschwunden. Ich schüttelte den Gedanken daran ab.
»Carl ist tot …«, setzte Borund an.
Der Oberhofmarschall richtete sich leicht auf. »Habe ich gehört.«
Borund schnaubte. »Ich dachte, er wäre der Mann, der für den Tod der anderen Händler verantwortlich ist, und in gewisser Hinsicht hatte ich damit auch recht: Er war derjenige, der die Anschläge eingefädelt und angeordnet hat. Er hat versucht,mich in der Schänke am Kai töten zu lassen, was aufgrund von Varis’ Einschreiten jedoch misslang. Von diesem Moment an ließ mich der Verdacht nicht los, dass er hinter dem Tod der anderen Händler steckte.«
Borund verstummte, und der Oberhofmarschall schaute zu mir herüber. Ich zeigte keine Regung.
»Ich verstehe«, sagte er, und so war es tatsächlich. Ich konnte es in seiner Stimme hören.
»Erst danach erfuhr ich, dass es in Wirklichkeit nicht Carl war, der die Befehle gab, sondern dass mehrere Händler darin verstrickt sind.«
»Und Ihr kennt diese Händler?«
»Ja. Aber der Einzige von Bedeutung ist Alendor. Er beherrscht bereits die Hälfte des Handels in Amenkor.«
»Er kann die ganze Stadt beherrschen, vor allem, wenn er Macht über die Garde besitzt.«
Borund nickte beipflichtend. »Es gibt nur noch drei wichtige Händler in der Stadt, die nicht unter seinem Einfluss stehen: Regin, Yvan und ich selbst. Wenn wir drei uns verbünden, könnten wir die restlichen Schiffe losschicken, über die wir gebieten und die sich noch im Hafen befinden, ehe das Wetter umschlägt. Vielleicht könnten wir genug Grundnahrungsmittel auftreiben, dass die Stadt die Wintermonate
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