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Die Astronauten

Die Astronauten

Titel: Die Astronauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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unbekannter Forscher vereinigt. Ihr Ameisenfleiß ermöglichte es den Glücklicheren, in einem Augenblick der Erleuchtung eines der zahllosen Rätsel, die uns umgeben, zu lösen. Und du willst allein und sofort etwas so Großes vollbringen? Das schaffst du nicht ...‹
    Wir schritten durch den Garten unseres Landhauses. Inmitten von Blumenbeeten erhebt sich dort ein Obelisk aus Granit, den mein Großvater, der auch Astronom gewesen ist, zu Ehren Einsteins errichtet hat. Kein Sinnspruch, keine Worte sind darin eingemeißelt, nur Buchstaben – die Formel vom Gleichgewicht der Energie und der Materie: E = mc 2 .
    Wir gingen auf dem schmalen Pfad entlang zum Obelisken. Als wir davorstanden, sagte mein Vater: ›Diese Formel ist für das ganze Weltall gültig. Kannst du das verstehen? Nein. Weder du noch ich, noch sonst jemand auf der Welt versteht es. So, wie sich in einer Handvoll Wasser, die du nachts aus einer Quelle schöpfst, die Unendlichkeit des Himmels über uns spiegelt, sind in dieser Formel Umwandlungen von Masse zu Energie eingeschlossen, die bereits vor Jahrtrillionen, als weder die Sonne noch ihre Planeten bestanden, vor sich gegangen sind. Alles umfaßt sie – das Sichzusammenziehen undSichausdehnen der Milchstraße, das Aufflammen und Erlöschen kosmischer Nebel. Leben entsteht und erstirbt auf Planeten. Sonnen glühen auf und erkalten – aber diese Formel bleibt gültig bis in alle Ewigkeit. Beginnst du zu begreifen, was ich meine? Innerhalb unserer Welt gibt es keinen anderen Glauben als den an den Menschen und keine andere Unsterblichkeit als die, die in diesen Stein gemeißelt ist. Wer um sie kämpfen will, muß ein heißes Herz, einen kühlen Verstand haben, und er sollte sich darüber im klaren sein, daß sich so mancher damit abfinden muß, aus dem Leben zu scheiden, ohne in der Wissenschaft etwas erreicht zu haben; denn nicht immer entdecken jene die Wahrheit, die es am meisten ersehnen. Es ist dir wohl erlaubt zu hoffen; aber das hilft dir leider gar nichts – niemand und nichts hilft dir, wenn du unter Hilfe ein Rezept für Entdeckungen verstehst. Doch eine Hilfe findest du stets: den reichen Schatz von Erfahrungen, den die Wissenschaftler der Erde in Tausenden von Jahren angehäuft haben. Setz dich hier auf die Bank, die dein Großvater aufgestellt hat, und denke darüber nach, ob es sich unter diesen Perspektiven für dich lohnt, Forscher zu werden.‹« Arsenjew machte eine Pause.
    »An diesem Abend und auch in den nächsten Wochen spürte ich manchmal, daß der Blick meines Vaters auf mir ruhte. Vater wollte meine Antwort hören; aber – ich weiß selbst nicht recht weshalb, vielleicht fehlte es mir an Mut – ich zögerte sie hinaus.
    Ein halbes Jahr später sollte ich zur Beobachtung einer Sonnenfinsternis mit einer astronomischen Expedition nach Australien reisen. Mein Vater fühlte sich nicht wohl, ich zauderte; aber er wünschte, daß ich führe. Er starb während meiner Abwesenheit; ich war nicht einmal bei seinem Begräbnis dabei. So seltsam es klingen mag – ich vermochte nicht an seinen Tod zu glauben. Nach meiner Rückkehr hielt ich mich zwei Wochen in meiner Vaterstadt auf. Ich hatte allerlei Dinge zu erledigen, die mit der Expedition, der bevorstehenden Verteidigung meiner Doktordissertation und mit dem Tode meines Vaters verbunden waren, so daß ich erst im Oktober für einige Tage unser Haus in der Nähe der Stadt aufsuchen konnte. Ich kam allein hin und traf niemanden an; aber die Zimmer waren aufgeräumt, und im Kamin in der Hallebrannte das Feuer. Als ich an Vaters Zimmer vorbeiging, wollte ich unwillkürlich dreimal klopfen, wie ich es immer getan hatte – blieb jedoch mit erhobener Hand stehen. Im Pelz, so wie ich gekommen war, trat ich an den Kamin, der Rauch des Birkenholzes schlug mir entgegen, und erst in diesem Augenblick glaubte ich daran, daß mein Vater wirklich nicht mehr lebte. Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Kamin gestanden habe. Es geschieht nicht oft, daß sich irgendein abgenutztes, alltägliches Wort plötzlich wie ein Abgrund vor einem auftut. Dort, vor diesem Kamin mit den prasselnden Holzkloben, begriff ich den Sinn des Wortes ›nie‹. Auf der Erde leben und werden weiterhin Tausende, Millionen, Milliarden Menschen leben, gute und schlechte, berühmte und namenlose; aber in diesem durch die Jahrhunderte ziehenden Menschenstrom wird nie mehr, niemals wieder dieser eine Mensch sein, den ich so sehr geliebt habe, daß es mir gar nicht bewußt

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