Die Attentäterin
es nicht besser gewußt, hätte die Vermutung nahegelegen, daß der Mann in Wirklichkeit kein Mann, sondern ein paranor males Wesen war, vielleicht sogar ein Gestaltwandler wie sie selbst. In diesem Fall hätte sie vielleicht sogar geargwöhnt, daß Magie im Spiel war. Der Grund, warum ihr solch ein Verdacht nicht gekommen ist, war der, daß damals alles richtig gerochen hat. Die Menschen rochen nach Menschen. Die Luft roch nach Blut und Entsetzen und Tod. Nur ihre Augen gaben Anlaß zu der Vermutung, daß irgend etwas Seltsames vorging, und Tikki weiß immer noch nicht, was sie davon halten soll.
Eines ist gewiß: Sie wird keine Antworten auf ihre Fragen bekommen, wenn sie weiterhin nackt in diesem Zimmer herumliegt. Sie trägt ihre rote und schwarze Gesichtsfarbe auf und zieht ihre rotschwarze Kunstledermontur an, ihre Striper-Verkleidung. Sie überprüft die Kang - ein Schuß in der Kammer, der Munitionsclip ist voll und fest eingerastet -, und schiebt sie dann in das Rückenhalfter.
Aus dem Spätnachmittag ist Abend geworden, als sie die Straße betritt. Ein blauweißer Bus von Minuteman Security quält sich den Block entlang in Richtung Strafanstalt. Ein lautes Tuten und ein dumpfes Rumpeln kündigen die Vorbeifahrt eines Zuges auf den Schienen im Westen an. In diese Richtung geht sie, nach Westen. Ein paar Blocks weiter steht sie vor dem Hunan Mayfair, einem kleinen Restaurant, das zwischen ein deutsches Delikatessengeschäft und eine Pizzeria gequetscht ist. Im Fenster blinken in grellen Neonbuchstaben die Worte: ›Kung Po Rindfleisch! Heiß! Mit Wasserkastanien, Bambussprossen und Erdnüssen in heißer & scharfer Pfeffersoße gebraten! ‹ Sie betritt das Restaurant, setzt sich an einen der Plastiktische und bestellt einen Teller Kung Po.
»Achte darauf, daß es heiß ist«, sagt Tikki zu dem alten Mann, der ihre Bestellung aufnimmt.
»Ehh?« erwidert er stirnrunzelnd.
Sie setzt die Sonnenbrille ab und begegnet dem Blick des Mannes. Ein Anglo würde wahrscheinlich nur die rotschwarz gestreifte Gesichtsmaske wahmehmen. Vielleicht sieht der alte Mann mehr. Über sein Gesicht huscht ein Ausdruck der Überraschung. Tikki vermutet, daß er die asiatische Form ihrer Augen bemerkt hat. Bei einem Mann, der offensichtlich chinesischer Herkunft ist, macht das einen Unterschied.
»Ich will mein Essen heiß«, sagt sie im Mandarin- Dialekt.
»Sehr heiß«, erwidert der alte Mann lächelnd in derselben Sprache. »So heiß du willst. Warte es ab.«
Sie nickt, und der alte Mann verbeugt sich und geht.
In dem winzigen pyramidenförmigen Trid, das in der Mitte ihres Tisches verankert ist, wird ein Combatbikermatch zwischen den Texas Rattlers und den L.A. Sabers übertragen. Sie schaltet auf News Now 38 um und hört sich eine Wiederholung des Berichts über diesen Pinkel Neiman an, der in einem Parkhaus umgelegt worden ist. Sie bringen immer noch nichts über die Yakuza-Mitglieder, die sie erledigt hat. Warum stört sie das so sehr? Vielleicht deshalb, weil der Bericht über Neiman viele Einzelheiten enthält, die sie an ihr Attentat auf Ryokai Naoshi erinnern, das ebenfalls in einem Parkhaus stattfand, und sie weiß, daß die Medien solche Berichte oft bringen, trotz gerichtlich verordneter Nachrichtensperre und aller Anstrengungen der Cops, gewisse Vorfälle nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.
Sie fragt sich, ob Adama sie hinsichtlich der Identität jener angelogen hat, die sie zu ihrer Beute gemacht hat. Könnte man sie mit einer List dazu gebracht haben, ganz gewöhnliche Bürger zu ermorden? Das kommt ihr eher unwahrscheinlich vor. Tikki überprüft grundsätzlich alle Informationen, die ihr gegeben werden. Um sie zu täuschen, hätte Adama Magie gegen sie einsetzen müssen, und Adama ist kein Magier.
Das Fleisch wird gebracht, Kung Po, heiß genug, um sich den Gaumen daran zu verbrennen. Das Essen hilft ihr, sich zu beruhigen, was das Denken erleichtert. Sie erwägt kurz, einen zweiten Teller zu bestellen, aber jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt, sich vollzustopfen. Sie muß denken. Klar denken. Scharf denken.
Jemand hat einen Preis auf ihren Kopf ausgesetzt. Es spielt keine Rolle mehr, wie man herausbekommen hat, daß sie die Hauptwaffe in Adamas ehrgeizigem Streben nach der Herrschaft über die Unterwelt Philadelphias ist. Was soll sie deswegen unternehmen? Das ist die Frage.
Sich auf das Schlimmste gefaßt machen.
Ihr Geld holen.
Tikki gefällt die Vorstellung zu flüchten nicht, aber
Weitere Kostenlose Bücher