Die Attentäterin
wolle sie wieder die Straße betrachten, beobachtet jedoch aus den Augenwinkeln, wie das Mädchen durch die Schwingtür eilt, die zur Küche führt. Es gibt keinen ›Kim Tae Hwan‹, zumindest nicht in diesem Restaurant. Der Name ist ein Paßwort.
Tikki nippt an ihrem Tee und wartet.
Ein paar Minuten später kehrt das Mädchen zurück. »Besitzer fragt, woher du weißt von Kim Tae Hwan?«
Tikki erwidert: »Black Mist.«
»Hier warten.« Das Mädchen dreht sich um und verschwindet erneut, kommt jedoch rasch wieder zurück.
Tikki nimmt einen letzten Zug von ihrem Zigarillo, trinkt ihren Tee aus und folgt dann dem Mädchen durch die Schwingtür in die Küche. Ein kräftig gebauter Jugendlicher erwartet sie dort. In seinem Gürtel steckt eine schwere Automatik. »Bist du bewaffnet?«
Tikki umfaßt die Revers ihrer Jacke und spreizt die Arme. Der Junge unterzieht sie einer raschen Durchsuchung. Natürlich trägt sie keine Schußwaffen, Messer oder andere Werkzeuge ihres Gewerbes bei sich. Das wäre schlechter Stil. Aber das bedeutet nicht, daß sie nicht bewaffnet ist. Selbst nackt und mit leeren Händen wäre Tikki niemals unbewaffnet.
»Mitkommen.«
Tikki folgt dem Jungen durch eine Tür im hinteren Teil der Küche und in eine schmale, abfallübersäte Hintergasse. Der Junge klopft an eine Metalltür im Haus gegenüber dem Restaurant, dreimal, dann noch zweimal. Die Tür öffnet sich. Tikki folgt dem Jungen durch die Tür, einen trübe beleuchteten Flur entlang, durch einen Raum, der mit Kisten und Karren voller Kleidung angefüllt ist, durch einen weiteren Raum, in dem ein schmutziger Mann hinter einem abgenutzten Holzschreibtisch sitzt, einen weiteren Flur entlang, durch eine Tür und dann eine Holztreppe hinab. Die Luft am Fuß der Treppe riecht nach Pistolen und Schießpulver, nach den Ölen und anderen Chemikalien, mit denen Schußwaffen gereinigt und gewartet werden.
Sie gehen durch einen langen Gang, fast ein Tunnel. Erdgerüche wie nach Lehm, Torf und Moder vermischen sich mit dem Aroma nach Metall. Der Junge zieht eine massive, etwa zehn Zentimeter dicke Holztür auf. Dahinter wartet ein Asiat in einem grauen Overall, der viele dunkle Flecke aufweist. Er mustert Tikki sehr kurz, bevor er auf englisch und mit sehr starkem Akzent sagt: »Black Mist okay. Ich bin Chey.«
Das ist der Name.
Chey ist Waffenspezialist. Man bekommt ihn nicht zu sehen, wenn man seinen Namen erwähnt. Was man in diesem Fall bekommt, ist ein freundlicher Gruß von der hiesigen Seoulpa-Gang. Ein Messer in den Bauch, vielleicht eine Kugel in den Kopf. Ein schnelles Begräbnis irgendwo in einem Müllcontainer. Keine Trauernden, keine Beerdigung.
»Hast du Nuyen?« fragt Chey.
»Hast du Hardware?« sagt Tikki.
Chey lächelt. »Das kannst du mir glauben.«
Sie gehen durch eine weitere massive Holztür in einen anderen Raum. Die Wände dieses Raumes werden von Gestellen voller Hardware gesäumt: Handwaffen, Sturmgewehre, Maschinenpistolen und mehr. Samuraischwerter. Ein Granatwerfer. Sprengpacks. Andere Hilfsmittel. Tikki zieht eine Sandler TMP aus einem Gestell. Da die Sandler Maschinenpistole normalerweise sehr billig zu haben ist, wird diese Waffe von Gangs und anderen Amateuren bevorzugt. Es ist bekannt, daß verschiedene Polizeiorganisationen die Möglichkeit ausschließen, ein Profi-Attentäter könne eine Sandler benutzen. Darin liegt ihre Anziehungskraft für Tikki.
Andererseits soll ihr nächster Job wie Profiarbeit aussehen, also tauscht sie die Sandler gegen eine SCK Modell-100 aus, die bevorzugte Waffe japanischer Sicherheitskräfte und angeblich sogar der Roten Samurai, der Elitetruppen der Renraku-Arkologie in Seattle.
Sie holt zwei M-100s aus dem Gestell.
»Ausprobieren.«
Spezialisten wie Chey sind bei Neulingen gewöhnlich sehr vorsichtig. Sie drücken ihnen nicht einfach geladene Waffen in die Hand. Viel zu leicht, den Ladenbesitzer zu töten und den Laden auszurauben. Chey spannt eine der MPs in eine hölzerne Halterung ein, die auf einer auf das hintere Ende des Raums ausgerichteten Bank befestigt ist. Dann gibt er Tikki einen Munitionsclip. Tikki läßt den Clip einrasten, entsichert die Waffe, umklammert den Griff und drückt ab. Fünf Kugeln fegen durch die braune Pappscheibe, die am Ende des Raums hängt. Der Schußlärm, der durch die Enge noch verstärkt wird, läßt kurz Tikkis Ohren klingeln.
Sie probiert die andere MP aus, die ebenfalls zufriedenstellend funktioniert. Sie wird sie
Weitere Kostenlose Bücher