Die Aufsteigerin
wurde, fühlte er sich vom strafenden Blick des alten Mannes durchbohrt.
»Es gab eine Zeit, da wärst du umgehend vor mir erschienen. Aber heute kennt ja niemand mehr Respekt. Ich bin ein alter Mann. Mir bleibt nicht viel mehr als ein gut funktionierender Verstand und eine Vorliebe für Pünktlichkeit.« Er stand auf, und seine energische und charakterstarke Ausstrahlung ließen seine geringe Körpergröße vergessen.
»Ich kann mich nur entschuldigen, Don DeMarco«, sagte Paul kleinlaut. »Ich hatte einen anstrengenden Tag. Ich habe versucht, die Ehre meiner Familie zu …«
Der Don unterbrach ihn. »Setz dich, um Himmels willen. Welche Ehre? Deine Tochter - möge Gott mir vergeben, dass ich es ausspreche - ist doch der Grund all deiner Probleme. Und weißt du, was mein Don mir zu sagen pflegte? ›Beseitige den Grund, und du hast das Problem beseitigt.‹«
Paul Santorini verließ der Mut.
Mit den Händen gestikulierend, ging der alte Mann im Arbeitszimmer umher. »Ehre, Ehre. Das ist alles, was ich heutzutage zu hören bekomme. Aber unter Dieben gibt es keine Ehre. Ich bin seit siebzig Jahren auf der Welt, und einzig das hab ich wirklich gelernt.«
Paul wartete erstmal ab. Anderes blieb ihm auch nicht übrig. Er wusste, dass der alte Mann eine Weile reden würde, um dann schließlich zum Kern dessen zu kommen, was er sagen wollte.
»Ich höre jedem zu. Ich erfahre alles, was vor sich geht. Ich weiß, dass Maria es schon immer auf die Männer abgesehen hat.« Er hob die Hand, als wolle er einem möglichen Einspruch Pauls zuvorkommen, und redete weiter.
»Das Problem mit den Iren - das hat alles mit ihr zu tun. Ein Mann hat durch deine Hand sein Leben verloren. Das verstehe ich: Er hat Gewalt gegen dein Kind angewendet, und daher konntest du gar nicht anders. Aber eine kaltblütig umgebrachte Passantin? Die Tage der Rachemorde auf offener Straße sind hoffentlich endgültig vorüber. Seit Al Capone aus der Bronx fortgezogen ist und sich in Chicago niedergelassen hat, bemühen
wir uns um Ehrbarkeit. Die fünf Familien von New York sind die wichtigsten Familien, das weißt du sehr wohl. Wir müssen ein Exempel statuieren. Heute habe ich Anrufe von allen anderen Dons bekommen. Sie wollen wissen, was los ist. Warum dieses Blutvergießen. Das Entscheidende ist jedoch, dass sie wissen wollen, auf welche Weise sie von dieser Angelegenheit betroffen sind. Sie wollen das bei einem Treffen erörtern. Ich verstehe ihre Sorgen, denn mir würde es genauso ergehen. Ereignisse wie diese können schnell eskalieren.«
Sein Tonfall änderte sich beinahe unmerklich und erinnerte Paul nachdrücklich daran, welche Bedrohung dieser Mann für ihn sein konnte.
»Ich will diese Sache innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden geklärt sehen. Sollte das nicht geschehen und ich gezwungen sein, persönlich einzugreifen …« Don Pietro zuckte die Achseln und ließ den Rest unausgesprochen.
»Und jetzt - vielleicht ein Gläschen Grappa?« Er schenkte betont langsam ein, um Paul Zeit zu geben, die Worte zu verdauen. Als er dann das Glas vor ihm abstellte, lächelte Don Pietro und sagte leutselig: »Ich denke, Las Vegas ist genau der richtige Ort für Maria.«
Paul zuckte zusammen, als ihm blitzartig klar wurde, dass dieser Mann alles wusste, schon immer alles gewusst hatte und in Zukunft auch wissen würde.
»Sie fortzuschicken ist jetzt deine vordringlichste Aufgabe. Das und die Einigung mit den Iren. Mahoney ist keineswegs zu unterschätzen.«
»Meinen Sie nicht, ich sollte zu ihnen gehen und versuchen, eine Versöhnung zu erreichen?«
Don Pietro schmunzelte. »Ich glaube, das genau ist es, was du tun solltest. Dieser junge Docherty ist, wie ich höre, ein guter Soldat. Mahoney und seine Brüder scheinen ihn allesamt für einen integren Mann zu halten, auf den man sich verlassen kann. Du hast ihre Unternehmen in Queens abgefackelt, du hast ihre
Nachtclubs in Brand gesetzt. Jetzt musst du alles in deiner Macht Stehende tun, um den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Ich will keinen Krieg erleben, jedenfalls nicht mit den Iren. Sollen sie sich untereinander bekriegen. Wir haben genug damit zu tun, in unseren Reihen für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wir müssen nicht gegen die Iren kämpfen - am wenigsten wegen einer Frau. Nicht einmal, wenn es um meine Tochter ginge.«
Er lachte ausgelassen, und Paul lächelte. Er wurde aufgefordert, alles wieder ins Lot zu bringen oder persönlich den Preis zu zahlen. Er musste für
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