Die Aufsteigerin
nicht über Rons Tod. Sie saß auf der schmalen Pritsche in ihrer Zelle und starrte auf die blassgelben, von Graffiti bedeckten Wände. Dann konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
Was sollte sie nur tun?
Diese Frage ging ihr seit Stunden quälend durch den Kopf. Man hatte ihr eine Tasse Tee und ein paar Zigaretten zukommen lassen, aber ansonsten war niemand aufgetaucht. Nervös richtete sie sich auf und machte sich daran, ihr Haar zu richten. Unentwegt schmiedete sie neue Pläne. Insgeheim wusste sie durchaus, dass sie ihre Tochter schützen müsste, aber sie hatte ihr Leben lang ausschließlich das eigene Interesse im Auge gehabt und konnte das nicht plötzlich ändern.
Madge war nicht in der Lage, eine Strafe abzusitzen. Dazu noch in einem richtigen Knast. Man hatte sie als jugendliche Straftäterin ein paarmal in Holloway eingesperrt. Das war ihr eine Lehre gewesen, und die Aussicht, etwa nochmal hinter Gitter zu kommen, konnte sie nicht ertragen.
Und dazu noch für lange Zeit.
Lebenslang.
Sie redete sich ein weiteres Mal ein, dass Cathy ja noch jung
sei, bald wieder frei sein würde und alles bestimmt leicht verkraften könne. Im Gegensatz zu ihr selbst, die sie auf die fünfzig zuging und ihre Freiheit gewohnt war.
Und sowieso: Cathy hatte zum Messer gegriffen.
Cathy hatte Ron erstochen.
Cathy war durchaus alt genug, um die Konsequenzen ihrer Tat zu tragen.
Aber irgendwo tief in ihr rührte sich doch ein ganz klein wenig das schlechte Gewissen. Sie sprang auf, lief in der Zelle auf und ab. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, sie atmete schwer und keuchend. Angst hatte sie ergriffen. Sie konnte sie schmecken. Und sie schmeckte bitter.
Mit resignierter Miene betrachtete Gates seinen Vorgesetzten, Detective Chief Inspector Bannister. Als einem Vertreter der alten Schule galt für ihn nur eine Devise: Finde einen Verdächtigen und nagele ihn fest.
Im stickigen Büroraum reagierten beide Männer gereizt, und Bannister, der den Blick seines DI erwiderte, unterdrückte seine aufkommende Abneigung.
Als Gates in sein Leben getreten war, hatte er zum ersten Mal das Gefühl der Unsicherheit kennengelernt. Äußerlich glich dieser Mann eher einem Kriminellen als einem Polizisten, mit seinem kurzgeschorenen Haar auf der beginnenden Glatze, mit seinem Stiernacken und den unnachsichtigen blauen Augen. Gates pflegte zudem eine höchst eigenwillige Lebensauffassung, die sich in der augenfälligen Seelenverwandtschaft mit vielen der Kriminellen offenbarte, mit denen er beruflich zu tun hatte.
Er war im East End geboren und hatte es auf Umwegen zur Ehrbarkeit gebracht. Sein Vater war Wirt eines Pubs gewesen und hatte so manchen Gangsterboss jener Zeit bewirtet. Auf jeden, der ihn kennenlernte, wirkte DI Richard Gates absonderlich, und da er das sehr wohl wusste, nutzte er es schonungslos aus. Seine sanfte Stimme flößte seinen Männern genauso panische
Angst ein wie den Gangstern. Mit seinen muskulösen Armen und dem mächtigen Bauch konnte er gemütlich aussehen, aber im nächsten Moment schon bedrohlich wirken wie ein Bär.
Jetzt, da er seinem Vorgesetzten in die Augen sah, wusste er sehr genau um die Wirkung, die er damit hervorrief, und genoss es sehr. Er hatte Respekt vor nichts und niemandem, und das unterschied ihn von anderen Polizisten. Was er sich schamlos zunutze machte.
»Für meine Person denk ich, es war die Mutter. Das Mädchen hatte nichts damit zu tun.«
Bannister nickte und sagte: »Soweit ich weiß, soll Madge Connor lauthals behauptet haben, dass ihre Tochter die Schuldige ist?«
Gates zuckte die Achseln. »Madge ist eine Hure, und Huren würden alles behaupten, um ihren Hintern zu retten. So viel sollten Sie doch auch wissen.«
Dieser Affront wurde sehr wohl gespeichert und zur späteren Bezugnahme abgelegt. Bannister war entschlossen, Gates eines Tages auszubooten, und zwar ein für alle Mal.
»Und … was wollen Sie unternehmen?«
Gates schmunzelte. Er wusste, dass er die Schlacht gewonnen hatte. Jetzt musste er nur noch den Krieg siegreich beenden.
»Ich werde mich mal mit Madge unterhalten und sehen, ob ich sie nicht zur Vernunft bringen kann. Ihr sozusagen den Irrweg klarmachen, den sie eingeschlagen hat.«
Bannister nickte. »Gute Idee. Ich kann die Sache also Ihnen überlassen, nicht wahr?«
Gates nickte und schritt hinaus. Sein Vorgesetzter wünschte nur, dass der DI so schnell wie möglich auf ein anderes Revier versetzt würde.
Kapitel sieben
Richard Gates
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