Die Aufsteigerin
angezogen. Sie saß im Verhörraum und sah sich verwirrt um. Die schmutzigen Wände und der zerkratzte Tisch ließen ahnen, dass viele Menschen hier stundenlang eingesperrt gewesen waren. Dunkle Flecken an den Wänden und auf dem Fußboden verrieten überdies, dass manche von ihnen gegen ihren Willen festgesetzt und mit Gewalt dazu
bewegt worden waren, ihre Geständnisse zu machen. Trotz ihrer Jugend wusste Cathy darüber Bescheid. Dort, wo sie wohnte, waren Geschichten über die Brutalität der Polizei gang und gäbe, und sie wurden nicht selten mit gewissem Stolz erzählt. Es sah fast so aus, als würde ein junger Mann erst dann als echter Ganove gelten, wenn er von der Polizei in die Mangel genommen worden war. Das war für sie von ebenso großer Bedeutung wie das erste Sexgefummel oder der allererste Einbruch.
Ein Schauder lief Cathy über den Rücken, als sie die dunklen Flecken betrachtete und sich ausmalte, welche Strafaktionen in diesem Raum vollzogen worden waren. Instinktiv ahnte sie, dass der nette Gates sich dabei besonders hervortat. Er behandelte gewiss nicht alle so wie sie. Sie schloss die Augen, um sich vorzustellen, wie es mit ihr weitergehen mochte. Sie wusste nur, dass man ihre Mutter angeklagt hatte und dass sie von einer Sozialarbeiterin in Obhut genommen und der Fürsorge überstellt werden sollte. Schon das Wort machte ihr Angst.
Fürsorge. Nach dem, was sie von Schulfreunden gehört hatte, konnte das Wort »Fürsorge« im Sprachgebrauch der Sozialdienste alles Mögliche bedeuten. Die Tür ging auf. Mit großen Augen schaute sie auf die Frau mit dem grünen Topfhut und dem orangefarbenen Lippenstift, die hereingekommen war.
»Das ist das Kind?«
Die Polizistin nickte wortlos. Sie fühlte mit dem Mädchen. Diese Schreckschraube mit dem Geiergesicht sah zum Fürchten aus. Alles an ihr war knochig und eckig, angefangen bei den hohen Wangenknochen über die Handgelenke bis hinunter zu den Knöcheln. Wie unglaublich spitz ihre Knie waren, sah die Polizistin erst, als die Frau sich gesetzt hatte.
»Name, Kind?«
Stumm sah Cathy die Frau an.
Die junge Polizistin hatte Mitleid mit dem Mädchen und sagte leise: »Sie steht noch immer unter Schock.«
Die Frau warf ihr einen eisigen Blick zu und sagte mit schneidender
Stimme: »Wenn ich Ihre Meinung hören möchte, werde ich Sie es wissen lassen.«
Cathy starrte nur geradeaus. Nach einem Seufzer sagte die Frau knapp: »Trotz bringt dir gar nichts, junge Dame.« Dann fügte sie hinzu: »Ich möchte dir nur raten, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich kann dir das Leben so leicht machen oder so schwer, wie es mir passt. Es ist nur zu deinem Besten, wenn du das nicht vergisst.« Mit einem Blick zur Polizistin sagte sie: »Bringen Sie uns Tee.«
Widerwillig verließ die Polizistin den Raum.
Mrs. Mary Barton, Sozialarbeiterin, musterte das Mädchen. Die herzförmige Oberlippe und der natürliche Schwung der Augenbrauen gefielen ihr nicht. Das Kind sah bereits äußerst erwachsen aus. Dass die Brüste dieses jungen Mädchens den dünnen Stoff des ausgeliehenen Kleides fast zu sprengen drohten, machte sie ärgerlich. Im Grunde störte sie alles an diesem Kind. Mädchen aus der Arbeiterklasse wurden bereits als Frauen geboren. Sie entwickelten sich schneller, sie sahen den Männern früher hinterher, und wie sie aus eigener Erfahrung bestätigen konnte, produzierten sie auch viel früher die nächsten Kinder.
Diese hier mit ihrem auffallend blonden Haar und den großen blauen Augen brauchte dringend eine feste Hand, und Mary Barton wusste genau, wem diese Hand gehörte. Aber noch nicht. Sie hatte daran gedacht, das Kind bei der Familie Henderson in Totteridge in Pflege zu geben.
Cathy strich sich das Haar aus den Augen und ließ es über eine Schulter fallen. Diese anmutige und absolut unbewusste Geste ließ Mrs. Barton mit den falschen Zähnen knirschen.
Kein Zweifel: Hier wuchs eine Hure heran. Aber ein paar Monate in der Benton School for Girls würden diesem kleinen Flittchen garantiert die Flausen austreiben! Jetzt noch mit Tee und Mitgefühl Zeit zu verschwenden, war unangebracht.
»Komm, Kind, wir haben eine lange Fahrt vor uns.«
»Darf ich vorher noch meine Mom besuchen?«
Mrs. Barton schüttelte heftig den Kopf. »Nein, darfst du nicht. Das hier ist ein Polizeirevier und kein Ferienlager. Deine Mutter wird beschuldigt, einen Mord begangen zu haben, und ist inzwischen bestimmt schon auf dem Weg nach Holloway. Schnellstens weg mit dem letzten
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