Die Aufsteigerin
schon seit zehn Jahren, und wenn was faul ist mit einer, seh ich das auf den ersten Blick. Und schreib dir eins hinters Ohr: Leg dich nie mit Miss Henley an. Die ist fies und biestig, und Barton hast du dir ja schon zur Feindin gemacht. Also sei auf der Hut, Mädchen. Sei immer auf der Hut, und pass immer gut auf dich auf! Ich kann dir nämlich nur eins sagen: Wenn du’s nicht tust, dann tut’s keiner!«
Cathy sah direkt in das Raubvogelgesicht. »Ich dürfte gar nicht hier sein, denn das ist eine Anstalt für Straftäterinnen, oder? Und ich hab doch gar nichts getan.«
Deidre lächelte. »Wenn Barton dich hier haben will, dann bleibst du auch hier. Trag deine Nase nicht zu hoch, und halt immer schön die Klappe, dann ist alles gut. Wenn du erstmal hier drinnen bist, wird von draußen keiner mehr in deine Nähe kommen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Verunsichert ließ Cathy ihre Sachen im Zimmer und folgte Deidre nach unten. Der Karbolgestank war allgegenwärtig und vermischte sich mit dem Geruch von zerkochtem Kohl. Eine Kombination, von der einem übel werden konnte.
Cathy wünschte sich nichts als ein Bad und etwas Vernünftiges zu essen. Sie klammerte sich an diesen Gedanken, als sie den Klassenraum betraten. Ungefähr dreißig Augenpaare starrten sie neugierig an, und Cathy spürte, wie sie vor Verlegenheit rot wurde. Ohne ein weiteres Wort ließ Deidre sie vor der Klasse stehen
und darauf warten, den anderen Mädchen vorgestellt zu werden.
Sie musste lange warten. Die Lehrerin, eine große und recht beleibte Frau, schenkte ihr keine Beachtung, sondern fuhr fort, die Klasse in persönlicher Hygiene zu unterweisen. Cathy sah zu und nahm alles in sich auf. Aber ihre Miene verriet nichts.
Sie musterte die Mädchen und die Lehrerin und beschloss, bei der allerersten Gelegenheit auszureißen.
Cathy Connor wusste, dass sie all ihr Sinnen und Trachten darauf richten musste, diesem Ort zu entfliehen. Und zwar allein.
Zumindest eine Person hier schien freundlich zu sein, und das war ein Anfang.
Sorgsam darauf bedacht, ein völlig unbeteiligtes Gesicht zu machen, verbrachte sie die nächsten anderthalb Stunden damit, konzentriert zuzuhören und zuzusehen.
Kapitel neun
Nachdem der Unterricht vorbei war, sprach trotzdem niemand mit Cathy, nicht einmal die Lehrerin Mrs. Daggers. Sie galt als die strengste und konnte mindestens so gut austeilen wie einstecken. Nicht einmal die legendäre Denise traute sich, Mrs. Daggers zu reizen.
Hinter den anderen ging Cathy langsam in Richtung Speisesaal. Ein Mädchen ließ sich etwas zurückfallen und flüsterte: »Es ist Teezeit. Iss, so viel du kriegen kannst. Hinterher bekommen wir nur noch eine Tasse Kakao, und das wär’s dann bis morgen früh.«
Cathy lächelte ihr dankbar zu, und sie betraten den Speisesaal, wo sie in der langen Schlange darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Hier lernte sie Denise kennen. Das Mädchen war ungewöhnlich dick, hatte aber ein sehr hübsches orientalisches Gesicht. Ihre Hände und Füße wirkten zu klein für den fettleibigen Körper. Ihre Augen waren grünblau und nicht braun, wie man erwartet hätte. Sie hatte etwas Leutseliges an sich, und Cathy lächelte, als sie zum ersten Mal von ihr angesprochen wurde.
»Und wer bist du?« Die Stimme klang unverkennbar nach Südlondon, und Cathy antwortete selbstbewusst.
»Cathy Connor. Ich komm aus Bethnal Green.«
Denise lächelte. »Bist also keine vom Norden?«
Cathy sagte schroff: »Will ich nicht hoffen. Hab ich nicht schon genug Ärger?«
Die Mädchen aus dem Süden lachten, und Denise grinste: »Schätze schon. Weswegen bist du drin?«
All die Jahre mit Madge hatten Cathy gelehrt, stets auf der Hut zu sein. Also senkte sie die Stimme und sagte: »Das erzähl ich dir später, wenn wir keine Zuhörer haben.«
Denise schaute sie eine Weile durchdringend an. Sie steckte jetzt in der Zwickmühle. Das Mädchen war aus gutem Grund hier, sonst wäre sie nicht so anmaßend. Also würde Denise sie gern in ihrer Truppe haben. Die meisten Mädchen prahlten mit ihren Schandtaten, kaum dass sie zur Tür hereinkamen. Diese aber verlangte nach Privatsphäre, was die anderen schon seit Jahren aufgegeben hatten. Entgegen besserer Einsicht beschloss Denise, Nachsicht zu üben.
»Na gut. Komm, setz dich zu mir und wir reden.« Auf diese Weise würde sie alles erfahren, ohne das Gesicht zu verlieren. Das neue Mädchen faszinierte sie, und sie wollte wissen, was es wirklich mit ihr auf sich
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