Die Augen der Medusa
hätten sie ins schlangenumzüngelte Antlitz der Medusa geschaut und sich stillschweigend einverstanden erklärt mit dem, was es wirklich bedeutete. Dass es keinen Sinn hatte, vor der Macht des Schicksals herumzuhampeln. Dass es lächerlich war, sich einzubilden, irgendetwas im Leben erzwingen zu können. Dass einen gerade das tötete, worauf man den Blick fixierte.
Vielleicht hätten sie ihre Niederlage akzeptiert, wären, ohne sich gegenseitig ins Gesicht zu sehen, die Treppe hinaufgestiegen und durch zwei sinnlos geschlagene Mauerbreschen abgezogen, wenn nicht Matteo Vannoni gewesen wäre. Er machte zwei Schritte bis zum Eingang des Tunnels, ging auf die Knie und kroch hinein. Sekunden später hörten die anderen den Hammer auf den Meißel schlagen, der Vernunft, der Verzweiflung und dem Schicksal zum Trotz. Sie horchten auf, und es zeigte sich, dass Stein durchaus splittern konnte. Auch eine Medusa war nicht unbesiegbar. Nichts war zu Ende, bevor es wirklich zu Ende war.
»Ich bitte dringend um die Erlaubnis, in den Keller vordringen zu dürfen. Wir sollten vor Ort sein, bevor der Geiselnehmer durchgebrochen ist«, sagte Nummer 1. DerSprechfunk war auf Zimmerlautsprecher geschaltet worden, so dass jedes Mitglied des Krisenstabs im Pfarrhaus mithören konnte.
»Hämmert er noch?«, fragte der Questore.
»Jetzt wieder«, sagte Nummer 1.
»Was ist?«, fragte der Questore zu dem Beamten am Computer hin.
Der nickte. »Gerade ist eine E-Mail hereingekommen.«
»Nun lesen Sie schon!«
»Was soll das? Ziehen Sie den verdammten Panzerwagen sofort zurück!«
Der Questore sagte: »Antworten Sie Folgendes: Die Panzerplatten bestehen aus zwanzig Millimeter dickem Stahl. Keine Chance für Ihren Granatwerfer!«
Der Beamte am Computer tippte.
Die Stimme von Nummer 1 flüsterte beschwörend: »Wir sollten jetzt in den Keller hinab. Sofort!«
»Hämmert er immer noch?«, fragte der Questore.
»Positiv«, sagte Nummer 1 über Sprechfunk, »und deswegen müssen wir …«
»Sie warten Ihre Befehle ab!«, bellte der Questore ins Mikrofon.
Das Feuer im Kamin brannte hoch. Und das schon seit Stunden und Tagen. Obwohl der Raum im ersten Stock des Pfarrhauses mindestens vierzig Quadratmeter maß, war er überheizt. Wer hier nicht schwitzte, hatte Eiswasser und kein Blut im Leib.
Der Mann am Computer sagte: »Der Geiselnehmer schreibt, dass wir eigentlich recht hätten. Es gäbe überhaupt keinen Grund, mit der Hinrichtung von Ispettore Sventura bis 24 Uhr zu warten.«
»Hämmert er noch?«, fragte der Questore.
»Sì, signore!«, sagte Nummer 1 aus der Sprechfunkanlage.
Der Questore machte drei Schritte nach vorn, drehte auf den Fußballen um und blieb stehen. Er sagte: »DenPanzerwagen zurückziehen! Die Sturmeinheit des NOCS bleibt, wo sie ist, und greift nur zu, wenn jemand aus dem Keller auszubrechen versucht.«
»Aber …«, sagte der Uniformierte mit den vielen Orden auf der Brust.
»Hier stimmt etwas nicht«, sagte der Questore. »Einer allein kann nicht gleichzeitig mailen und auf eine Kellerwand einhauen. Da drin hat sich nicht nur Minh Vannoni verschanzt. Wer weiß, wie viele Komplizen ihn unterstützen? Solange ich keine Ahnung habe, was Sache ist, hetze ich meine Leute da nicht hinein.«
Auch eine Medusa war nicht unbesiegbar. Wie hatte der Kerl das damals gemacht? Dieser griechische Held?
»Perseus. Er hieß Perseus«, sagte Marisa Curzio, »und er blickte in seinem glänzenden Schild nur das Abbild der Medusa an. So kam er nahe genug heran, um sie mit einem fürchterlichen Hieb zu enthaupten.«
Manchmal musste man einer tödlichen Gefahr entgegentreten, aber nicht immer war es gut, ihr ins Auge zu sehen. Zumindest nicht direkt. Ein Abbild reichte völlig aus.
»Das ist es!«, rief Donato. »Ein Bild, nur ein einziges Bild müssten wir haben. Vielleicht ein Foto, aber besser noch ein Fernsehbild, das live in alle Wohnzimmer und in jede Polizeidienststelle des Landes gesendet wird. Einfach eine kurze Einstellung, die zeigt, was da drüben wirklich los ist. Dass nicht Minh der Killer ist, sondern ein anderer, der ihn genauso in seiner Gewalt hat wie die Polizisten.«
Donato hatte recht. Ein Bild bewies mehr als tausend Worte. Es überzeugte unmittelbar und würde den ausgetüftelten Plan des Geiselnehmers mit einem Schlag zunichte machen. Fast wie durch einen fürchterlichen Schwerthieb. Man musste dem Killer nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Es war nicht notwendig, sich seinen Waffen
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