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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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war Minhs Stimme«, sagte Marisa Curzio. »Wir sind aus dem Schlaf gerissen worden. Da kommt einem erst einmal alles fremd vor, sogar …«
    »Die Geisel hat nicht gesagt: Er bringt mich um«, zischte Matteo Vannoni. »Sie hat die Mehrzahl benutzt. Hört ihr alle schlecht?«
    »Vielleicht hat Minh sich und uns gemeint. Der Täter könnte gedroht haben, alle in Montesecco umzubringen. Er schoss dann ja auch mit dem Granatwerfer …«
    »Es war nicht Minhs Stimme!« Franco beharrte auf seiner Meinung, doch wie man es auch drehte und wendete, die Informationen, die man hatte, wollten einfach nicht so zueinander passen, dass sich ein stimmiges Bild ergab. Sicher schien nur, dass Minh nicht da war, wo er jetzt sein sollte. Nämlich hier bei ihnen allen.
    »Ist Catia eigentlich noch nicht zurück?«, fragte Marta Garzone.
    Seit Catia Vannoni die Einsatzleitung aufgesucht hatte, waren schon mehr als zwei Stunden vergangen. So lange brauchte man doch nicht für eine Vermisstenmeldung, zumal anzunehmen war, dass die Polizei anderes zu tun hatte als einer besorgten Mutter zuzuhören. Marta Garzone berichtete, dass Catia den Abend zuvor nicht nach Hausegegangen war. Bis 4 Uhr morgens hatte sie in der Bar gesessen, hatte in den Fernseher gestarrt und beteuert, dass alles in Ordnung sei und sie gleich gehen werde. Wenn draußen nicht die Hölle losgebrochen wäre, säße sie wohl immer noch da.
    »Was willst du damit sagen?«, fragte Matteo Vannoni.
    »Als ob sie Vorahnungen gehabt hätte«, sagte Marta.
    Ivan Garzone schlug vor, Catia zu suchen, und alle schlossen sich an. Sie brauchten nicht weit zu gehen. Mit verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern saß sie draußen auf der Steinbrüstung, die die Piazzetta vom steil abfallenden Hang abgrenzte. Es hatte leicht zu schneien begonnen. Die Flocken tanzten durch die Luft, schienen unwillig, auf den Boden zu sinken. In der Ferne verwoben sie sich zu einem körnigen Vorhang, der den Feldern und Hügeln jegliche Farbe nahm. Die Linie der Häuser von San Pietro auf dem Kamm gegenüber war noch zu erahnen, doch weiter links, ins Tal hinein, verschwammen Himmel und Erde in trostlosem Grau.
    »Komm rein, Catia!«, sagte Marta Garzone. »Es ist viel zu kalt hier draußen.«
    Catia hatte die Kapuze ihres Anoraks hochgeschlagen, aber über ihr Gesicht perlten Tropfen von geschmolzenen Schneeflocken. Sie schien es nicht zu bemerken. Ihre Lippen waren verkniffen. Müde sah sie aus. Und alt. Viel älter als ihre vierunddreißig Jahre.
    »Minh …«, sagte sie.
    »Komm endlich rein!«, wiederholte Marta.
    »Willst du dir den Tod holen?«, fragte Matteo Vannoni barscher, als er eigentlich wollte. Mit Catia hatte er noch nie gut umgehen können, obwohl er sich bemühte. Er traf einfach nicht den richtigen Ton.
    Catia sagte: »Minh hat mir am Morgen vor dem Anschlag auf Malavoglia erzählt, dass er heute etwas sehr Wichtiges erledigen müsse. Es wäre gut möglich, dass ich ihn bald in den Fernsehnachrichten sehen könnte.«
    »Was?«, fragte Ivan Garzone.
    »Genaueres hat er nicht gesagt. Nur, dass ich staunen würde. Als wir vom Ort des Attentats zurückkehrten, habe ich nach ihm gesucht, und später noch zwei Mal. Sein Büro war abgeschlossen. Es blieb dunkel, als die Dämmerung hereinbrach. Auch auf mein Klopfen rührte sich nichts, aber ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass jemand da drin war. So etwas spürt man doch irgendwie.« Catia breitete die Arme aus.
    »Minh war nicht allein in seinem Büro«, sagte Marisa Curzio. »Er konnte nicht aufmachen, weil ihn der Geiselnehmer in seiner Gewalt hatte.«
    Die Finger von Catias rechter Hand strichen durch den Schnee auf der Steinbrüstung. Das Weiß schmolz zu nassen Strichen. Fünf eng aneinander liegende Linien, die auf Catia zuführten.
    »Ja«, sagte sie, »natürlich! Der Geiselnehmer!«
    Im ersten Stock des Pfarrhauses gegenüber flammte Licht auf. Dabei war dort der Strom seit vielen Jahren abgestellt. Selbst wenn die Polizei den ENEL-Leuten eine Behandlung wie in Guantanamo angedroht hätte, war es angesichts jahrzehntelanger Erfahrungen mit der Bürokratie des Unternehmens äußerst unwahrscheinlich, dass sie die Leitungen so schnell freigeschaltet hatten. Vielleicht hatten die Techniker der Staatspolizei die Verbindungstür zur Kirche aufgebrochen und dort den Strom abgezapft.
    Catia rührte sich nicht von der Brüstung weg, und die Dorfbewohner sahen zu, wie sich zwei schwer beladene Kleinbusse der Polizia di Stato über

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