Die Augen der Medusa
Geiselnehmer verschanzt. Es soll sich um einen siebzehnjährigen Jungen hier aus dem Ort Montesecco handeln, der vier Agenten der Polizia di Stato in seiner Gewalt hat. Noch fehlt die Bestätigung seitens der Behörden, doch nach Recherchen von Canale 5 scheint festzustehen, dass sich der siebzehnjährige M. vor drei Tagen mit Oberstaatsanwalt Malavoglia in Verbindung gesetzt hat. Angeblich hatte er brisante Informationen, über deren genaue Natur noch nichts bekannt ist. Die Staatsanwaltschaft leitete jedenfalls geheime Vorermittlungen in die Wege, die unter dem Decknamen ›Operation Medusa‹ liefen. Wie es dem Jungen gelang, Malavoglia zu einer Fahrt nach Montesecco zu überreden und so in den tödlichen Hinterhalt zu locken, bleibt bis zur Stunde unklar.
Im Zuge der ersten Ermittlungen nach dem Attentat suchten die vier Polizisten den Siebzehnjährigen in seinem Büro auf. Man hätte sich natürlich fragen können, woher er sein Wissen hat, wenn er nicht selbst in verbrecherische Kreise verstrickt war, doch anscheinend bestand zu diesem Zeitpunkt kein Tatverdacht gegen ihn. Er sollte nach unseren Informationen nur als Zeuge befragt werden, um den Grund für Malavoglias Reise zu erfahren. Wohl deshalb ließen sich vier erfahrene Agenten überrumpeln und gerieten so in die Gewalt des mutmaßlichen Täters. Erst als sich die Polizisten auch Stunden später noch nicht zurückgemeldet hatten, erkannten die Verantwortlichen die wahren Zusammenhänge. Es muss nun davon ausgegangen werden, dass der Siebzehnjährige auch den Anschlag auf Malavoglia begangen hat oder zumindest daran beteiligt war.
Ein nächtlicher Überraschungsangriff der Spezialeinheit NOCS schlug fehl, die Geiseln konnten nicht befreit werden. Über ihr Befinden ist zur Stunde genauso wenig bekannt wie über Motiv und eventuelle Forderungen des Geiselnehmers. In den Gassen und Häusern Monteseccos herrscht gespannte Ruhe. Der gesamte Ort ist im Belagerungszustand. Das war Anna-Maria Guglielmi für Canale 5 aus Montesecco.«
Der Sprecher im Studio bedankte sich, versprach, die Zuschauer auf dem Laufenden zu halten, und fuhr mit weiteren Nachrichten fort.
»Das ist doch unglaublich!«, sagte Marisa.
Donato nickte.
»Donato?«, fragte Marisa.
»Ja«, sagte Donato.
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Ja?«
Donato blickte seine Frau an. Was sollte er denn groß sagen? Dass die Welt verrückt war? Dafür konnte er doch nichts. Und daran vermochte er auch nichts zu ändern. Er drückte Marisa die Fernbedienung in die Hand und stand auf. Dann ging er aus dem Salotto und stieg die Treppe hoch. Seine wichtigen Unterlagen bewahrte er im Schlafzimmerschrank auf. Da er alles in verschiedenen Ordnern säuberlich sortiert hatte, fand er gleich, was er suchte. Deutlich länger dauerte es, bis er sich durch das Kleingedruckte der Versicherungspolice gearbeitet hatte. Es war so, wie er befürchtet hatte. Bei Schäden durch Kriegsereignisse, Unruhen, höhere Gewalt und Kernenergie war dieKFZ-Versicherung von der Leistungspflicht befreit. Donato würde auf dem verschmorten Gerippe seines Fiat Uno sitzen bleiben, ohne den geringsten Ausgleich zu erhalten.
Er ließ sich aufs Bett herab. Bei Marisas Reaktion war ihm mehr als deutlich geworden, dass er nicht einmal bei irgendwem Luft ablassen konnte. Die Zerstörung seines Wagens kümmerte keinen. Ja, schlimmer, es schien fast ein Verbrechen geworden zu sein, von irgendetwas anderem zu sprechen, als dass der kleine Vannoni offensichtlich durchgedreht war. Attentate, Geiselnahmen, Sondersendungen im Fernsehen, das war alles schön und gut, aber selbst wenn es jetzt nicht so aussah, würde sich der Alltag bald zurückmelden.
Wie sollte Donato zum Beispiel zur Arbeit kommen? Acht Kilometer nach Pergola bei Schnee und Kälte zu Fuß gehen? Und nachmittags den gleichen Weg wieder zurück? Einen neuen Wagen konnte sich Donato im Moment keinesfalls leisten, nicht einmal einen klapprigen gebrauchten. Die anderen taten sich leicht. Es war ja nicht ihr Auto, das ausgebombt auf der Piazza stand.
Donato erhob sich und ging zum Schlafzimmerfenster. Die Scheiben beschlugen unter seinem Atem. Er wischte mit der Hand darüber. Dort unten, verdeckt vom Haus der Sgreccias, befand sich das Wrack seines Autos. Er hatte den Wagen am selben Platz wie immer abgestellt. So, wie die anderen auch. Außer vielleicht noch vor der Bar konnte man in Montesecco nur auf der Piazza parken, weil die Gassen zu schmal waren, um bis zur
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