Die Augen der Medusa
lauern. Sie musste sich genau überlegen, wen sie ins Vertrauen ziehen sollte. Da hinten, war das nicht Paolo? Auf ihn hatte man sich immer verlassen können. Costanza knöpfte sich den Mantel auf. Dann ging sie betont unschlüssig durch den Gastraum und tat so, als ob sie rein zufällig an Paolos Tisch einen Platz fände. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Wand, lächelte ihrem Nebenmann zu und sagte: »Schönes Wetter heute, nicht?«
»Außer, dass es eiskalt ist und bald so schneien wird, dass man auf zwei Meter keine Katze mehr sieht.«
»Das liegt am Winter«, sagte Costanza.
»Gut möglich.«
»Aber sonst ist es ein wunderbarer Tag«, sagte Costanza.
»Abgesehen davon, dass es eiskalt und Winter ist«, antwortete Paolo, und Costanza nickte.
Sie beide hatten sich immer gut verstanden. Costanza wartete, bis der Wirt den Tee vor ihr abgestellt und sich wieder entfernt hatte. Sie rührte in der Tasse, beobachtete die anderen Gäste. Als sie sicher war, dass keiner auf sie achtete, beugte sie sich ihrem Nebenmann zu und murmelte: »Hör zu, Paolo, wir müssen …«
»Paolo ist seit langem tot, Costanza. Ich bin Franco, dein Bruder Franco.«
»Ach ja?« Costanza musterte ihn. Hatte sie sich so getäuscht? Ihr Bruder sah doch ganz anders aus. Der war jung und stark, war er immer gewesen! Sie erinnerte sich genau, wie er auf den Bock gesprungen war, als unten auf der Piazza die Pferde durchgingen. Letzten Sommer musste das gewesen sein, kurz nach Ferragosto. Der Mann hier neben ihr hätte das Fuhrwerk nie unter Kontrolle gebracht, der war ja fast so alt wie sie selbst. Das schüttere Haar, die tief eingesunkenen Augen, der weiße Schnauzbart, der zahnlose Mund – nein, das war eindeutig Paolo. So sicher, wie die Deutschen Montesecco besetzt hatten.
Und dann begriff sie. In schwierigen Zeiten wie diesen war es wohl angebracht, sich als jemand anderer auszugeben. Zumindest für einen, der Grund hatte, sich vor Spionen und Verrätern in Acht zu nehmen. Paolo war schlau. Und vorsichtig. Costanza hatte gleich gewusst, dass er für die Resistenza unentbehrlich sein würde.
Sie legte den Teelöffel auf der Untertasse ab, zwinkerte Paolo zu und raunte: »Hör zu, Pao…, äh, Franco, wir müssen kleine Zellen bilden, die unabhängig voneinander operieren. Es dürfen möglichst wenig andere gefährdet werden, wenn einer auffliegt. Nur drei, vier Leute, die sich gut kennen und einander bedingungslos vertrauen, schließen sich zusammen. Jede Gruppe schlägt zu, wo und wann sie es für richtig hält. Es muss nicht immer eine großartige Aktion sein, auch kleine Nadelstiche zeigen Wirkung. DieDeutschen hier dürfen nie zur Ruhe kommen, zu keiner Tages-oder Nachtzeit dürfen sie sich sicher fühlen und …«
»Costanza?«, fragte Paolo.
»Ja?«
»Sprichst du von der Resistenza?«
»Psst!«, zischte Costanza. Sie sah sich um. Niemand schien aufmerksam geworden zu sein, doch wusste man, wer hier die Ohren spitzte?
»Costanza«, sagte Paolo, »wir schreiben das Jahr 2008. Der Krieg war 1945 vorbei. Also vor dreiundsechzig Jahren. In Montesecco gibt es seit damals keinen deutschen Soldaten mehr. Da draußen hast du Polizisten gesehen, italienische Polizisten. Die sind hier, weil ein Verbrechen geschehen ist und weitere verhindert werden müssen. Die wollen dich beschützen. Verstehst du das, Costanza?«
»Natürlich, … Franco«, sagte Costanza. Sie war ja nicht dumm. Paolo hatte recht. Man konnte niemandem trauen. Gerade jetzt am Anfang konnte die Resistenza nur Erfolg haben, wenn sie streng geheim agierte. Kein Deutscher durfte für möglich halten, dass es sie überhaupt gab.
Catia Vannoni hatte beharrlich geschwiegen. Dennoch war binnen Kurzem in ganz Montesecco durchgesickert, dass ihr Sohn Minh die Freilassung von zwölf verurteilten Terroristen forderte. Zwar hatte noch kein Fernsehsender die Meldung ausgestrahlt, doch die vor Ort befindlichen Reporter waren von ihren Redaktionen unverzüglich informiert worden. Wie eine Meute hungriger Wölfe stürzten sie sich auf jeden Dorfbewohner, dessen sie habhaft werden konnten, um ihn nach Kontakten Minhs zur linksradikalen Szene auszufragen. Aber die existierten nicht. Genauso wenig wie irgendeine andere Art von politischem Engagement oder Interesse. Zumindest hatte niemand den Jungen auch nur eine diesbezügliche Bemerkung machen hören.
»Und wie erklären Sie sich dann seine Forderung?«, fragte der Reporter von La Stampa . Catia Vannoni zucktenicht einmal die
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