Die Augen der Medusa
Fenster zur Piazza! Catia konnte sich nicht erinnern, ob sie das Telefon erwähnt hatte, als sie dem Einsatzleiter der Spezialeinheit Minhs Büro beschriebenhatte. Doch warum, um Himmels willen, sollte sie ihren Sohn nicht auf dem Handy, sondern übers Festnetz anrufen?
Weil sie wussten, wo er sich befand, wenn er jetzt abnahm! Sicher sahen sie durch ihre Zielfernrohre einen grauen Schatten, der sich hinter der Fensterscheibe den Hörer ans Ohr drückte. Sie mussten nur noch warten, bis er sich meldete, bis Catia durch ihre Reaktion bestätigte, dass Minh und nicht eine der Geiseln dort stand. Sobald sie sicher waren, würden sie abdrücken, die Kugeln würden durchs Fensterglas schlagen, von gegenüber, von schräg oben, von allen Seiten, und Catia müsste am Telefon mit anhören, wie ihr einziger Sohn vielfach getroffen zusammenbräche. Vielleicht brächte er nur noch ein ersticktes Gurgeln hervor, würde nicht einmal mehr ihren Namen stammeln können, weil ihm die Kugeln …
Catia warf den Hörer auf die Gabel, als wäre er mit Blut befleckt.
»Was ist?«, fragte der Questore. Er hatte buschige Augenbrauen und eine Halbglatze, die im Schein der Glühbirne rosig schimmerte. Seine Lippen waren ein wenig verkniffen, doch wie ein Mörder sah er nicht aus. Nicht einmal wie ein skrupelloser, heimtückischer, machtgieriger, über Leichen gehender Provinzpolizeichef.
»Er geht nicht ran«, sagte Catia so ruhig, dass sie sich selbst dabei fremd vorkam.
»Vielleicht hat er die Mail noch nicht gelesen«, sagte die Psychologin.
Wenn Minh nicht ans Telefon ging, wussten sie gar nichts. Er konnte am Schreibtisch sitzen oder die Innentreppe ins Untergeschoss hinabsteigen, er konnte am Computer tippen oder die Geiseln fesseln und sich in irgendein Eck schlafen legen. Sie hatten keine Chance, ihn einfach so zu erschießen. Catia lächelte.
»Doch«, sagte der Polizist am Laptop. »Er hat die Mail gelesen. Gerade hat er geantwortet.«
Der Drucker unter dem Pfarrhaustisch begann zu summen. Der Polizist beugte sich hinab und zog ein Blatt Papier hervor, kaum dass es durchgelaufen war. Er reichte es dem Questore. Der überflog die ersten Zeilen und las dann halblaut: »Massimiliano Amedei, Roberto Bò, Tita Buzzola, Ernesto Evangelisti, Rosanna Gadda …«
»Wer ist das?«, fragte Catia.
»Brigate rosse«, sagte der Questore. »Ihr Sohn verlangt die Freilassung von zwölf inhaftierten Terroristen der Roten Brigaden.«
»Verdammt!« Der Polizist am Laptop wies auf den Bildschirm.
»Was?«
»Er hat die Forderung nicht nur an uns geschickt, sondern auch an Rai TV, Mediaset, Corriere della Sera, La Repubblica, La Stampa und noch ein paar andere große Zeitungen.«
»Hängt euch ans Telefon!«, bellte der Questore. »Die sollen bloß das Maul halten! Wenn ein Wort davon in den Medien erscheint, mache ich die Verantwortlichen höchstpersönlich fertig. Und jetzt brauche ich eine Leitung zum Innenminister. Sofort!«
Auf dem Bildschirm war zum wer weiß wie vielten Mal die ausgebrannte Limousine von Oberstaatsanwalt Malavoglia zu sehen. Den Worten des Nachrichtensprechers hörte Donato nicht zu. Dass Marta ihn als herzlos wie einen 1,6-Liter-Motor bezeichnet hatte, machte ihm immer noch zu schaffen. Er hielt es doch auch für schrecklich, dass zwei Menschen auf entsetzliche Art umgekommen waren. Aber durfte man deswegen nicht mal erwähnen, dass auch der eigene Wagen von einer Granate völlig zerstört worden war? Donatos Fiat Uno hatte knappe zwanzigtausend Kilometer auf dem Buckel gehabt, er war noch keine zwei Jahre alt und nicht einmal völlig abbezahlt gewesen. Die letzten drei Raten standen noch aus. Und nun? Ein Wrack. Totalschaden.
»Marisa …«, sagte Donato.
»Ich würde gern zuhören«, sagte Marisa, ohne die Augen vom Bildschirm zu wenden.
»… schalten wir nun direkt zu Anna-Maria Guglielmi nach Montesecco« , sagte der Nachrichtensprecher.
Die Fernsehbilder zeigten eine junge Reporterin ein paar Meter vor einer Polizeiabsperrung. Auf der linken Seite der Gasse war der Eingang von Lidia Marcantonis Haus zu erkennen. Neben der Tür stand ein Blumentopf. Ein paar blattlose, verdorrte Stängel ragten aus der gefrorenen Erde. Wenn man Bescheid wusste, erahnte man am Ende der Gasse die Piazza. Das Haus, in dem sich Minhs Büro befand, lag allerdings viel weiter rechts und konnte von der Kamera nicht erfasst werden. Dennoch raunte die Reporterin ins Mikrofon:
»Kaum dreißig Meter hinter mir hat sich der
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