Die Augen der Medusa
Achseln. Sie ging mit seltsam ungelenken Schritten vom Tisch zum Fenster. Matteo Vannoni bezweifelte, dass seine Tochter die Frage überhaupt vernommen hatte. Er hatte sich angeboten, bei ihr zu bleiben, bis das alles vorüber wäre. Von seiner Seite aus schien ihm das selbstverständlich, doch dass sie nicht rundweg abgelehnt hatte, beunruhigte ihn. Gerade wenn es hart auf hart ging, hatte Catia nie jemanden an sich herangelassen. Schon gar nicht ihren Vater. Die Mauern, die sie um sich errichtete, gaben ihr wohl den Halt, solche Situationen durchzustehen. Doch jetzt schien ihr alles egal zu sein. Sogar den Reporter hatte sie widerspruchslos ins Haus gelassen.
Matteo Vannoni lehnte am Sims des Küchenfensters. Er blickte hinaus. Es hatte heftig zu schneien begonnen. Die Flocken wurden schräg durch die Gasse gepeitscht. In ein paar Metern Entfernung verdeckte der flirrende weiße Vorhang schon die Stufen, die nach unten führten. Als ob die Treppe im Bodenlosen endete. Bald würden sich auch die Hausmauern auflösen, und dann gäbe es nur noch wildes Gestöber, in dem jeder Blick, der sich vergewissern wollte, wo oben und unten war, hilflos ertränke.
»Ich denke, es ist besser, Sie gehen jetzt«, sagte Vannoni.
»Sie sind der Großvater, nicht?«, fragte der Reporter. »Ich habe schon von Ihnen gehört.«
»Wir haben der Presse nichts mitzuteilen«, sagte Vannoni.
»Sind Sie der gleichen Auffassung, Frau Vannoni?«
»Sie drehen dir jedes Wort im Mund um, Catia, bis du es nicht mehr wiedererkennst. Fett, fremd und hässlich springt es dir dann von den Titelseiten entgegen.« Vannoni wusste, wovon er sprach. Nicht nur einen Schmutzkübel würden sie über Minh ausleeren. Davor würde Vannoni seine Tochter nicht bewahren können. Aber wenigstens sollte sie dann nicht das Gefühl haben, selbst zu dem Dreck beigetragen zu haben.
Catia wandte sich vom Fenster ab. Sie ging drei Schritte bis zum Tisch, machte kehrt, ging die drei Schritte zurück.Mit der Handfläche wischte sie über die Fensterscheibe. Die Schneeflocken, die außen aufprallten, schmolzen und rannen als dünne Fäden herab. Der Reporter sagte: »Das ist ein Fall von nationalem Interesse, über den sowieso berichtet wird. Das können Sie nicht verhindern, und ich auch nicht. Uns sollte es darum gehen, Verzerrungen zu vermeiden. Auf Spekulationen verfällt die Presse, wenn sie keine Fakten hat.«
Die Fakten waren, dass Vannonis Enkel sich mit vier Geiseln in seinem Büro verbarrikadiert hatte, zwölf Terroristen freipressen wollte und mit demselben Granatwerfer, mit dem Oberstaatsanwalt Malavoglia getötet worden war, Autos auf der Piazza in Brand schoss. Die Fakten waren Irrsinn. Sie konnten einfach nicht stimmen, auch wenn sie noch so sehr Fakten waren.
Vannoni sah seiner Tochter zu, wie sie vom Fenster zum Tisch lief, vom Tisch zum Fenster. Irgendwann würden sich Spuren in die Bodenplatten graben. Wie in den Zookäfigen, an deren Gittern die Raubkatzen mit stumpfem Blick entlangtrotteten. Auf und ab, hin und her. Vannoni sagte: »Wir geben keine Stellungnahme ab. Zu gar nichts.«
Der Reporter fragte: »Stimmt es, dass Sie in den siebziger Jahren der linksradikalen Lotta Continua angehört haben?«
»Kein Kommentar.«
»Und dass Sie als Mitglied dieser Gruppe an politisch motivierten Anschlägen beteiligt waren?«
Vannoni hatte Mollis geworfen. Genau zwei. Gegen den faschistischen MSI. Der erste verpuffte folgenlos vor der Stahltür ihres Parteibüros in Pergola, der zweite brannte einen Zeitungskiosk nieder, in dem hauptsächlich Schriften angeboten wurden, die Mussolini verherrlichten. Sie waren zu viert gewesen. Vannoni und drei Genossen, die er längst aus den Augen verloren hatte. Nachts um 2 Uhr waren sie losgezogen. Zu Fuß. Der Kiosk hatte am Corso in Pergola gestanden, nicht weit von der Gedenktafel entfernt,die an die Gefallenen der Resistenza erinnerte. Vannoni hatte das als unerträgliche Provokation empfunden, doch emotional zu handeln galt damals als eskapistisch. Jedes Tun hatte der revolutionären Strategie zu nützen, und deswegen waren die Rechtfertigungen, die sie sich zurechtgelegt hatten, politischer Natur gewesen. Einen Faschisten treffen, hundert dadurch erziehen, hatte einer der Slogans gelautet. Eine proletarische Gegenmacht galt es aufzubauen und durch beispielhafte Aktionen zu zeigen, dass der Bewegung das Gewaltmonopol des Staates herzlich egal war und sie keine Angst davor hatte, das Heft selbst in die Hand zu
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