Die Augen der Medusa
Druck ist kaum auszuweichen. Kein leichtes Los für einen Heranwachsenden, der sich erst ausprobieren und finden muss. Doch wird allein deswegen ein Siebzehnjähriger zum mutmaßlichen Mörder und Geiselnehmer? Auf der Suche nach Erklärungen stoßen wir auf Ablehnung und Achselzucken. Nur wenige Dorfbewohner sind bereit, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Den tieferen Grund dafür offenbart uns Frau Angiolini, eine Nachbarin, die den mutmaßlichen Täter seit seiner Geburt kennt …«
Im Fernseher sah Milena Angiolini ihren eigenen Salotto. Und sich selbst, wie sie mit ihren drei Kindern auf dem Sofa saß. Genau wie jetzt. Nur dass sich Jennifer im Fernsehbild ängstlich an sie schmiegte, während sie nun mit ausgestrecktem Arm auf den Apparat zeigte. Für einen Moment stellte sich Milena vor, dass der Bildschirm ein Spiegel wäre, der einen eigenen Willen besaß und manchmal keine Lust hatte, alles exakt wiederzugeben. Das war natürlich Unsinn. Das Interview war vor ein paar Stunden aufgezeichnet worden. Wo sonst hätte Milena es geben sollen als hier im Salotto? Und von wo sonst sollte sie es nun ansehen als vom Sofa aus?
Milena konnte nicht umhin, ihr Abbild im Fernsehen kritisch zu betrachten. Immer noch war sie eine attraktive Frau, auch wenn sich die Jahre nicht mehr verleugnen ließen. Ein, zwei Pfunde weniger um die Hüften würden allerdings nicht schaden. Ihre Frisur war passabel, aber der Sweater über der grauen Hose sah ein wenig schäbig aus.
Milena hatte mit dem Gedanken gespielt, etwas Eleganteres anzuziehen, doch konnte sie schlecht das Fernsehteam im Wohnzimmer mit den Kindern warten lassen, während sie oben im Kleiderschrank wühlte. Außerdem wollte sie sich von den anderen im Dorf später unter keinen Umständen vorwerfen lassen, dass sie nur sich selbst im Fernsehen produzieren wollte. Es ging schließlich nicht um eine Modenschau, sondern darum, für Minh um Verständnis zu werben. Der Junge war kein Monster, das musste doch einmal laut und deutlich gesagt werden!
Milena hatte das auch laut und deutlich gesagt, mehrfach sogar, aber offensichtlich waren diese Passagen in der Redaktion des Fernsehsenders herausgeschnitten worden. Kein Wort davon, dass Minh die Scuola media mit Bravour abgeschlossen und sich selbst zum Computerexperten weitergebildet hatte. Kein Wort davon, dass er als Kindwunderbare Papierdrachen gebastelt hatte, die sogar Preise gewonnen hatten. Kein Wort davon, wie tapfer er den Schicksalsschlägen des Lebens entgegengetreten war.
»Welchen Schicksalsschlägen?«, hatte der Reporter gefragt.
»Der Junge ist als Achtjähriger entführt und wochenlang gefangen gehalten worden« , hatte Milena geantwortet, und dieser Satz war der erste, den sie sich nun aus dem Fernsehlautsprecher sagen hörte. Ihre Stimme kam Milena fremd vor. Rau, kehlig und irgendwie verlegen.
»Sind die Täter damals gefasst worden?«
Milena hörte sich stammeln, dass eine junge Frau aus Montesecco angeklagt, aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden sei.
»Das muss ein Trauma für den Jungen gewesen sein«, sagte der Reporter.
»Er war jahrelang in psychologischer Behandlung, aber …«
»Lebt die Entführerin noch in Montesecco?«
»Man darf sie nicht Entführerin nennen, weil …«
»Natürlich« , sagte der Reporter. »Lebt diese Frau noch hier?«
»Nein, sie ist nach dem Prozess …«
»Aber ihre Verwandtschaft?«
Milena sah sich zögerlich nicken. So, als fühle sie sich schuldig, die Lucarelli-Sippe damals nicht höchstpersönlich aus dem Dorf gejagt zu haben.
»Wie hat das Umfeld des Jungen reagiert?«
»Seine Mutter hat ihn immer unterstützt.«
»Und der Vater?«
»Der Vater ist unbekannt.«
»Unbekannt?«
Man wusste, dass Catia vor achtzehn Jahren, als sie selbst noch ein halbes Kind gewesen war, eine Nacht mit einem Vietnamesen verbracht hatte, den sie danach nie mehr gesehen hatte. Wahrscheinlich ahnte der Vater gar nicht, dass er einen Sohn gezeugt hatte. Es war nicht einmalsicher, ob Catia überhaupt seinen Namen kannte. Sie redete nicht darüber.
»Ja, unbekannt.« Milena hatte auch nicht darüber reden wollen. Sie sah, wie sie im Fernsehbild Jennifer und Joel näher an sich zog.
»Aufzuwachsen, ohne den eigenen Vater zu kennen, ist in einem Dorf wie Montesecco sicher nicht leicht« , sagte die Reporterstimme.
»Nein« , hörte sich Milena sagen. Da der Rest des Satzes wie des gesamten Interviews abgeschnitten worden war, klang es wie eine
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