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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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nehmen.
    Nichtsdestotrotz hatte Vannonis Herz bis zum Hals geschlagen, als er mit einem Rucksack auf den Schultern den verlassenen Corso entlanggegangen war. Bei jedem Schritt hatte das Benzin in der Flasche leise gegluckst. Wenn er sich jetzt daran zurückerinnerte, hörte er das Geräusch wieder so deutlich wie in jener Nacht. Unter den Arkaden war einer der Genossen zurückgeblieben, um Schmiere zu stehen. Die ersten Takte von »Avanti popolo« sollte er pfeifen, falls sich ihnen jemand näherte. Hinter der verglasten Seitenwand des Kiosks waren Hefte und billige Bildbände mit Titeln wie »Die Helden von Salò«, »Die Reden des Duce« oder »Italienische Infanteriewaffen« ausgestellt.
    Für den Molotow-Cocktail hatten sie eine Rotweinflasche verwendet, die sie vorher zusammen geleert hatten. Vannoni hatte sie aus seinem Rucksack geholt, die beiden anderen hatten die Scheibe des Kiosks eingeschlagen, und während sie zurückgesprungen waren, hatte Vannoni die primitive Lunte angesteckt. Dann hatte er geworfen. Die Flasche war geplatzt, und der ganze Papierkram hatte sofort in Flammen gestanden. Sie waren in die vereinbarte Richtung weggerannt, um zwei, drei Ecken in das Gassengewirr oberhalb des Corsos. In ihren Adern war reines Adrenalin geflossen. Vannoni hätte laut losbrüllen wollen:»Tod den Faschisten!« Vielleicht hatte er sogar gebrüllt, er wusste es nicht mehr genau.
    Das war 1975 gewesen, vor mehr als dreißig Jahren. Vannoni hatte damals geglaubt, das Richtige zu tun. Was er heute glaubte, war unerheblich. Die Vergangenheit war nie vergangen. Jahre, Jahrzehnte mochte man sich einbilden, dass sie tot wäre, und eines Tages schüttelte sie kurz das Haupt und war lebendiger denn je. Vannoni sagte zu dem Reporter: »Raus jetzt!«
    »Bekanntermaßen haben die Roten Brigaden einige Ex-Mitglieder von Lotta Continua rekrutiert, unter anderem Tita Buzzola, die später wegen zweifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und nun auf der Liste steht, die Ihr Enkel …«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Kennen Sie Tita Buzzola?«
    »Nein«, sagte Vannoni. »Nie gesehen, nie ein Wort mit ihr gesprochen.«
    »Und wie steht es mit den anderen elf?«
    »Nein!« Vannoni wusste gar nicht, wer auf der Liste stand. Er schüttelte den Kopf. Gerade noch hatte er seiner Tochter klarzumachen versucht, wie so etwas lief, und jetzt ließ er sich von einem Reporter in die Enge treiben, als wäre er selbst mit einem Granatwerfer am Tatort ertappt worden.
    »Hätte ja sein können.« Der Reporter lächelte dünn.
    Und wenn es so wäre? Wenn Vannoni tatsächlich einen der Terroristen kannte? Ganz auszuschließen war nicht, dass ihm mal einer bei einem Lotta-Continua-Kongress über den Weg gelaufen war. Hatte er deshalb dreißig Jahre später seinen Enkel so indoktriniert, dass dieser Amok lief? Es war Irrsinn.
    Catia blieb vor dem Küchentisch stehen, stützte die Hände auf und fragte den Reporter: »Haben Sie Kinder?«
    »Ich mache nur meinen Job.« Der Reporter verzog keine Miene.
    »Wenn Sie welche haben«, sagte Catia, »wissen Sie, was Ihre Kinder gerade tun? Jetzt, in dieser Minute?«
    Die Sondersendung begann mit den üblichen Bildern vom Ort des Attentats an der Straße nach Pergola. Das ausgebrannte Auto war abtransportiert worden, dafür flackerten neben Blumensträußen eine Menge Kerzen am Fuß des Holzkreuzes. Nach einer Totalen auf Montesecco wurden die grauen Häuser herangezoomt. Sie schienen so noch gedrängter als in Wirklichkeit zu stehen. Ein Schnitt. Die Kamera befand sich nun am höchsten Punkt des Dorfes, schwenkte langsam den Kirchturm herab, über schneebedeckte Dächer. Dann wagte sie sich die menschenleere Gasse entlang. Costanza Marcantoni steckte ihren Kopf aus der Tür und zog ihn sofort wieder zurück, wohl, weil sie das TV-Team bemerkt hatte. Der Kameramann hielt ein wenig zu lang auf die verschlossene Tür mit dem verblichenen blauen Anstrich.
    »Wann kommen wir endlich, Mamma?«, fragte Davide.
    »Gleich«, sagte Milena Angiolini. Sie vergewisserte sich, dass der Videorekorder unter dem Fernseher lief. Auch ihr Mann Mamadou sollte die Sendung sehen, wenn er von der Arbeit kam.
    Die Reporterstimme aus dem Fernsehen sagte: »Viele sind weggezogen, doch wer es hier sein Leben lang ausgehalten hat, misstraut allem Fremden. So wortkarg man sich nach außen gibt, im Inneren hat sich eine enge Gemeinschaft herausgebildet, von der jeder wohl oder übel abhängig ist. Dem enormen sozialen

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