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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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vorbeischauen. Irgendwer wusste dort sicher Bescheid. Gleich würde er aufbrechen. Nur noch eine Minute wollte er liegen bleiben, hier auf seinem Bett neben den Taschen und Kabeln der Fernsehleute, und dann würde er gehen.
    Vielleicht war Donato kurz eingenickt. Jedenfalls schreckte er hoch, als die Schlafzimmertür aufgestoßen wurde. Die Reporterin stürmte herein, lief – ohne ihm auch nur einen Blick zu gönnen – zum Fenster, riss es auf und zischte: »Jetzt geht es los!«
    »Einer der Polizisten hat geplaudert?«, fragte der Kameramann, während er die Einstellungen seiner Kamera überprüfte.
    Die Reporterin machte eine abschätzige Handbewegung. »Viel besser! Die Einsatzleitung hat Pizza bestellt. Ich habe mit dem Fahrer gesprochen, der sie von der Piccolo Ranch ausgeliefert hat. Drei Mal Pizza Regina und zwei Quattro Stagioni.«
    Donato verstand nicht. Die hatten eben Hunger. Auch er selbst könnte ein paar Bissen vertragen. Normalerweise würde Marisa um diese Uhrzeit …
    »Fünf Pizze!«, sagte die Reporterin. »Fünf gleich ein Geiselnehmer plus vier Geiseln. Und wenn es darum geht,den Täter bei Laune zu halten, sollten ihm die Bullen das Zeug servieren, bevor es eiskalt ist.«
    Donato stand vom Bett auf und schlich hinter den Kameramann. Auf der Piazza war nichts zu sehen. Außer einer geschlossenen Schneedecke.
    Die Reporterin flüsterte: »Na kommt schon, kommt schon!«
    Es dauerte ein paar Minuten, und es kam nur einer. Ein junger Kerl in der Uniform der Polizia di Stato. Einer von denen, die »hier« schreien, wenn ein Freiwilliger gesucht wird, noch bevor sie wissen, worum es überhaupt geht. Mit der rechten Hand balancierte er fünf Pizzakartons, in der linken trug er zwei durchsichtige Plastiktüten. Auf der Höhe des Lucarelli-Hauses blieb er stehen, knapp zehn Meter von den Stufen unterhalb des Eingangs von Minhs Büro entfernt.
    »Hast du ihn? Hast du sein Gesicht?«, flüsterte die Reporterin.
    Der Polizist stellte die beiden Tüten in den Schnee und legte die Pizzakartons obenauf. Dann streckte er beide Arme seitwärts aus, wie um zu signalisieren, dass er unbewaffnet sei. Die Tür von Minhs Büro öffnete sich eine Handspanne weit. Ein kurzes Kommando war zu hören. Donato konnte die Worte nicht verstehen, doch er glaubte, Minhs Stimme zu erkennen. Wenn die Männer der Spezialeinheit zugreifen wollten, wäre jetzt der richtige Moment. Minh befand sich direkt hinter der offenen Tür, könnte überwältigt werden, ohne Zeit zu finden, den Geiseln etwas anzutun.
    Donatos Augen suchten die Umgebung ab. Soweit er die Treppe zum oberen Teil des Dorfs einsehen konnte, huschten keine dunklen Gestalten hinab. Auf dem Flachdach von Minhs Büro kroch niemand durch den Schnee, und auch an der Fassade des Palazzo Civico bewegte sich nichts. Die Piazza war menschenleer, bis auf den Polizisten, der immer noch mit ausgebreiteten Armen im Weißstand. Es sah aus, als rufe er einen Gott an und bitte um … Donato wusste nicht, worum.
    »Wird’s bald?«, rief es aus dem Türspalt. Es war unverkennbar Minhs Stimme.
    Der Polizist ließ die Arme sinken und fasste sich dann an den Kragen. Von oben her knöpfte er seine Uniformjacke auf. Er streifte sie langsam ab, ließ sie neben sich in den Schnee fallen. Danach kam das blaue Hemd an die Reihe. Der Polizist bemühte sich sichtlich, jede Bewegung zu vermeiden, die von Geiselnehmern mit nervösem Zeigefinger missverstanden werden könnte. Als er das Unterhemd über den Kopf zog und der nackte Oberkörper sichtbar wurde, flüsterte die Reporterin: »Geh ganz drauf, ich will jedes einzelne Härchen zittern sehen!«
    Stiefel, Socken, Uniformhose. Der Kleiderhaufen am Boden wuchs. Die Boxershorts des Polizisten waren rotweiß gestreift. Als er sie ausgezogen hatte, bückte er sich fast wie in Zeitlupe. Er nahm die Pizzakartons und die beiden Plastiktüten auf. Dann ging er ganz langsam auf Minhs Büro zu. Donato fröstelte schon beim Zusehen. Barfuß durch den Schnee! Nackt durch diese Januarkälte! Die Pobacken des Polizisten glänzten im Laternenlicht weiß.
    »Ziemlich knackig«, sagte die Reporterin. Sie beugte sich nach vorn. Der Kameramann filmte, als gäbe es auf dieser Welt nichts, was man sonst tun könnte. Donato rieb sich die Oberarme. Warum dauerte das so lange? Ihn machte es fast wahnsinnig, dass sich der Polizist wie eine schlafwandelnde Schildkröte fortbewegte. Wer fror, versuchte doch, schnell zu laufen. Um warm zu werden. Um es hinter sich zu

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