Die Augen der Medusa
– so munkelte man in Rom – aus demselben Kaff wie der Minister selbst stammte. Natürlich roch das nach Vetternwirtschaft, aber im Grunde erwartete man doch nichts anderes von einem, der etwas zu sagen hatte. Und dem Cavaliere konnte der Ruf von Minister De Sanctis nun wirklich nicht am Herzen liegen. Schließlich waren sie beide bekanntermaßen erbitterte Feinde.
Politische Konkurrenten, hatte der Vertraute des Cavaliere am Telefon verbessert und angefügt, dass in Zeiten wie diesen die Staatsräson über allem stünde, auf jeden Fallaber über vergleichsweise unerheblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen aufrechten Demokraten. Selbst der Vorschlag, die Identität der Geisel geheim zu halten und ihr Gesicht auf den Aufnahmen unkenntlich zu machen, war abgelehnt worden. Einmalige Quoten seien nicht alles. Man müsse langfristig denken. Irgendwann sei man sicher um einen guten Draht zum Ministerium froh. Kurz, Canale 5 werde keinen Alleingang unternehmen. Die Bilder aus Montesecco müssten bis auf Weiteres unter Verschluss bleiben. Punktum.
Dahinter mochte stecken, was wollte. Fakt war, dass der Sender schon bis zur Schmerzgrenze kooperierte. Der Bitte des Innenministers, die politischen Forderungen des Geiselnehmers zu verschweigen, war entsprochen worden. Genau wie von allen anderen Medien, die auf dem Laufenden waren. Doch lange würde das nicht mehr so gehen, der Druck stieg von Stunde zu Stunde. Es war sowieso kaum zu glauben, dass einen ganzen langen Tag über nichts in die Öffentlichkeit durchgedrungen war. Man konnte nicht ewig über ein Attentat und eine Geiselnahme berichten, ohne darauf einzugehen, was der Täter wollte. Wenn einer damit herausrückte, würden alle Dämme brechen. Dann könnte sich auch der Cavaliere nicht mehr gegen die Ausstrahlung stemmen. Er müsste mit dem Strom schwimmen, wenn er nicht absaufen wollte.
Es durfte sich nur nicht allzu lang verzögern. Bildmaterial für die Nachrichten war wie aufgeschnittenes Weißbrot. Ließ man es herumliegen, wurde es in Tagesfrist altbacken, auch wenn es noch so frisch auf den Tisch gekommen war. Heute Nacht würde sich nichts mehr tun, aber spätestens morgen Nachmittag musste die Sache gegessen sein. Spätestens.
Hinter dem Fenster des Büros in der Safa Palatina erstreckte sich das Lichtermeer des nächtlichen Rom. Vom obersten Stock des Gebäudes hatte man einen guten Blick auf die Ruinen am Hang des Palatin. Riesige Ziegelgrotten,die der Nacht bedurften, um die Dramen erahnen zu lassen, die sich einst in ihnen abgespielt hatten. Auf der Via di San Gregorio zogen die Scheinwerfer der Autos helle Spuren von Kolosseum und Konstantinsbogen zum Circus Maximus. Der Clivo di Scauro, der an ausgegrabenen antiken Wohn-und Geschäftshäusern vorbei den Celio-Hügel heraufführte, war eine der ältesten Straßen Roms. Jeder Stein atmete hier Geschichte. Doch Geschichte geschah nicht von selbst. Hatten die Römer nicht schon vor zweitausend Jahren gewusst, dass man sie machen musste?
Auf der Schreibtischplatte stand das Telefon. Pagliucci nahm sofort ab. Der Mann hatte begriffen, dass man es bei Canale 5 zu nichts bringen würde, wenn man auf einem Acht-Stunden-Tag beharrte.
»Wissen Sie, was mir zu schaffen macht, Pagliucci?«
»Die Montesecco-Sache, Chef?« Pagliucci war einer der wenigen, die ein Gespür dafür hatten, worauf es ankam.
»Warum hat der Geiselnehmer nur die etablierten Medien über seine Forderung informiert? Die linken hätten sich doch einen Dreck darum geschert, ob der Innenminister ihnen das Wort verbietet. Die wären sofort ganz groß damit herausgekommen, dass zwölf Brigadisten freigepresst werden sollen. Mit Namen, Biographien und allem Pipapo.«
»Ja, seltsam«, sagte Pagliucci.
» Il Manifesto zum Beispiel.«
» Il Manifesto ?«, fragte Pagliucci.
»Die würden jetzt noch ihre Titelseite für morgen umwerfen, wenn sie die Information bekämen.«
»Ich verstehe«, sagte Pagliucci. Der Mann war gut. Unten, hinter der Porta Capena, lag das Oval des Circus Maximus in trostlosem Halbdunkel. Es sah aus, als wäre es seit zweitausend Jahren verlassen. Dabei hatte sich kaum etwas verändert seit damals. Brot und Spiele, das galt mehr denn je.
Pagliucci sagte: »Vielleicht eher Radio Radicale . Die von Il Manifesto sind vorsichtig geworden, seit sie damals John Kerry zum Sieger der US-Präsidentschaftswahl erklärt hatten. Und beim Radio geht es sowieso schneller.«
»Wie Sie meinen, Pagliucci. Ganz, wie Sie
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