Die Augen der Medusa
bringen. Noch dazu, wenn man verwundbar wie ein Neugeborenes auf eine unberechenbare Situation zusteuerte.
Jetzt stieg der nackte Polizist die Treppe hinauf. Langsam, Stufe für Stufe. Es waren zwölf. Donato zählte stumm mit. Oben war eine kleine Plattform, auf der sich der Polizist nach rechts wandte, auf ein paar weitere Stufen zu. Vorihnen blieb er stehen, nicht einmal zwei Meter von der Tür zu Minhs Büro entfernt. Er bewegte sich nicht, wirkte wie festgefroren. Das war nicht in Ordnung. Es sollte aufhören. Sofort. Donato hoffte inständig, dass irgendetwas geschähe, was das Eis brechen, den Schnee zum Schmelzen bringen und diesen vor Kälte klirrenden, gefrorenen Moment zerfetzen würde.
Aus dem Türspalt sagte jemand halblaut etwas Unverständliches. Vielleicht war es doch nicht Minhs Stimme. Mit aufrechtem Oberkörper kniete sich der Polizist nieder, fast wie in der Sonntagsmesse, nur dass er nackt war und da keine Kirchenbank war, sondern eine schneebedeckte Treppenstufe, und kein Priester, sondern ein …
Der Polizist beugte sich nach vorn und legte die Pizzakartons auf der Türschwelle ab. Dahinter stellte er die Plastiktüten. Für einen Moment lag er fast auf den Treppenstufen. Der Kameramann filmte. Die Reporterin sagte ausnahmsweise nichts.
»Verschwinde!«, rief es aus Minhs Büro. Der nackte Polizist rappelte sich auf und ging zurück. Er tastete sich rückwärts die Treppe hinab und durch den Schnee auf die Piazza hinaus, die Hände erhoben, das Gesicht immer der Tür zugewandt, die sich erst weiter öffnete, als er bei seinen Kleidern angelangt war und begann, sich hastig anzuziehen. Zwei Hände hoben die Pizzakartons aus dem Schnee über die Türschwelle. Die Plastiktüten waren zu weit entfernt. Ein Oberkörper tauchte aus dem Dunkel auf, das Licht der Laternen fiel kurz auf ein Gesicht – es war nicht Minh, keinesfalls war es Minh –, und die Tüten wurden nach drinnen gezogen.
Dann schloss sich die Tür. Hinter dem ersten Fenster war ein schwacher Lichtschein zu erahnen. Wie von einer Kerze. Oder vom reflektierten Licht einer Taschenlampe, die in eine andere Richtung leuchtete. Draußen auf der Piazza war der Polizist in die Stiefel geschlüpft. Das Hemd knöpfte er nicht zu. Die Jacke warf er über die Schulter.Er drehte sich um, lief los, verschwand hinter der Hausecke.
»Eine Wahnsinns-Show!«, sagte die Reporterin.
Der Kameramann filmte.
»Das muss noch in die Prime-Time-Nachrichten«, sagte die Reporterin.
Der Kameramann filmte noch immer, obwohl alles vorbei war. Niemand befand sich mehr auf der Piazza.
»Miguel?«, fragte die Reporterin.
Der Kameramann hörte sie nicht. Er filmte. Nichts war draußen zu sehen. Nur ein paar Spuren im Schnee. Die Abdrücke von Polizeistiefeln, die auf eine zertrampelte Stelle mitten auf der Piazza zu-und wieder von ihr wegführten. Nach der anderen Seite schienen dagegen zwei Personen barfuß nebeneinander gelaufen zu sein. Die Sohlenabdrücke rechts waren teilweise verwischt, die links dagegen klar und schwer. Alle fünf Zehen hatten sich bei jedem Schritt deutlich abgezeichnet. Die Spuren führten die Treppe hoch und hörten dann plötzlich auf, als wären ihre Urheber davongeflogen. In den Nachthimmel aufgestiegen und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Donato spürte, dass ihm trotz seines Pullovers kalt wurde. Das Fenster stand immer noch offen. Der Kameramann filmte weiter. Spuren im Schnee.
»Miguel!«, zischte die Reporterin. Dann wandte sie sich an Donato: »Raus jetzt! Wir haben zu arbeiten.«
Auch wenn sie ein nettes Sümmchen springen ließen, es war immer noch sein Haus, in dem sie sich befanden. Doch Donato sagte nichts. Er stapfte die Treppe hinab, legte ein paar dicke Scheite aufs Kaminfeuer, warf den Wintermantel um und zog seine Wollmütze über. Der Schnee draußen knirschte unter seinen Schritten, wie er es nur tut, wenn deutliche Minusgrade herrschen. In den vergangenen Wintern war es doch nie so kalt geworden! Oder konnte sich Donato nur nicht daran erinnern, weil er keine Veranlassung gehabt hatte, abends das warmeWohnzimmer zu verlassen? Irgendwie war früher sowieso alles anders gewesen.
In der Bar hielt sich kein einziger Dorfbewohner auf, und doch herrschte ein Riesenbetrieb. Die Presseleute schienen sich alle untereinander zu kennen. Sie duzten sich, diskutierten quer durch den Gastraum und soffen, dass Ivan und Marta Garzone kaum mit dem Einschenken nachkamen. Donato entschuldigte sich nach allen Seiten und
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