Die Augen der Medusa
sich seit Jahren oder Jahrzehnten niederließ, immer schon besetzt waren, hätte man noch verschmerzen können, aber man fühlte sich auch sonst nicht mehr wohl. Der ganze Raum schien auf einmal fremd geworden, die wackeligen Tische, die beiden blinkenden Spielautomaten, die Fotos vom Dorffest 1996, die früher nie jemand beachtet hatte, ja selbst das Licht der nackten Leuchtstoffröhren wirkte irgendwie verändert.
Die Inhaber der Bar, Marta und Ivan Garzone, fanden keine Zeit, auf solche Kleinigkeiten zu achten. Sie machten das Geschäft ihres Lebens. Marta lernte gerade eine Schankhilfe an, einen entfernten Verwandten aus Senigallia, der dort während der Saison als Bademeister arbeitete und im Winter sowieso nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte. Ivan entwarf eine Cocktailkarte, da schon mehrfach nach einer Bloody Mary oder einem Tequila Sunrise verlangt worden war. Der Kunde war König, vor allem, solange er großzügig bezahlte.
Problematisch gestaltete sich allenfalls, den Nachschub an Getränken zu organisieren. Die Lieferanten waren zwar in der Lage, der vielfach erhöhten Nachfrage zu entsprechen, konnten aber auf Grund der misslichen Verkehrssituation nicht bis zur Bar durchkommen. So wurde die Ware außerhalb des Dorfs, nämlich unten an der Hauptstraße, entladen. Für den Transport zur Piazzetta herauf sorgten auf Vorschlag eines altgedienten Journalisten des Corriere della Sera die Kabelträger, Hilfskräfte und Kameraassistenten der diversen Fernsehteams. Es gab sowieso nicht viel anderes für sie zu tun.
Vom Geiselnehmer war nichts zu sehen und zu hören, der Krisenstab hielt zwei Mal am Tag eine Pressekonferenz ab, bei der sich die Teilnehmer darin überboten, mit vielen Worten nichts zu sagen, und die Bewohner Monteseccos machten den Mund überhaupt nicht mehr auf.
Dazu beigetragen hatte sicher der Artikel, mit dem La Voce del Mezzogiorno auf Seite drei herausgekommen war. Normalerweise las kaum einer nördlich von Rom dieses Blatt, schon gar nicht die Bewohner von Montesecco, und selbst wenn sie gewollt hätten, wäre das schwierig gewesen. Man hätte dafür eigentlich bis Pesaro oder Ancona fahren müssen, wenn nicht Signora Lazzarini, die Besitzerin der Edicola gegenüber der Stadtverwaltung von Pergola, unternehmerischen Wagemut und bemerkenswerte Weitsicht bewiesen hätte. Gleich nach dem Mord an Oberstaatsanwalt Malavoglia hatte sie ihre Bestellungen auf alle halbwegs wichtigen Zeitungen Italiens vom Südtiroler L’Adige bis zur sizilianischen Gazzetta del Sud ausgeweitet, und zwar in einer Stückzahl, die das Vertriebsunternehmen nachfragen ließ, ob das wirklich ernst gemeint sei.
Das sei es, hatte Frau Lazzarini bestätigt, und tatsächlich ging ihr Kalkül auf. Die Horde von Reportern, die sich in Montesecco eingenistet hatte, interessierte sich brennend dafür, was die Konkurrenz aus den wenigen verfügbaren Informationen herausgeholt hatte. Jedenfalls wurden Frau Lazzarinis Sohn, der mit voll bepacktem Motorino aus Pergola kam, die Zeitungen aus den Händen gerissen. Selbst die Bewohner von Montesecco ließen sich anstecken. Schließlich war es zum ersten Mal seit über vierzig Jahren wieder möglich, im Dorf eine Tageszeitung zu kaufen. Und zwar nicht nur den Corriere Adriatico , sondern alles, was Italiens Presselandschaft zu bieten hatte.
Dass jemand aus Montesecco ausgerechnet La Voce del Mezzogiorno erwerben würde, war dennoch äußerst unwahrscheinlich. Im Nachhinein konnte nicht sicher ermittelt werden, wer das erste Exemplar in Umlauf gebracht hatte. Böse Zungen behaupteten, es sei der Reporter, der den Artikel verbrochen hatte, selbst gewesen, auch wenn es unlogisch erschien, dass er die gesamte Einwohnerschaft absichtlich gegen sich aufbringen wollte. Damit verbauteer sich schließlich jede Möglichkeit, an weitere Informationen zu gelangen.
»Welche weiteren Informationen?«, fragte Marta Garzone. »Er hat doch eh schon alles ausgegraben.«
Alles, was stank. Alles, was in den letzten Jahrzehnten an Tragödien über Montesecco hereingebrochen war. An Verbrechen, Tod und nie geklärten Ungeheuerlichkeiten. Und der Reporter hatte es nicht nur ausgegraben, er hatte es mit beiden Händen gepackt, durchgeknetet, zu einer kleinen stinkenden Kugel zusammengepresst, die rollte und rollte und rollte, bis sie, wie beim Roulette, so zufällig wie zwangsläufig in eine ganz bestimmte Kammer fiel, nur dass diese nicht mit einer Zahl gekennzeichnet war, sondern mit einer
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