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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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worden war? Auch wenn die genauen Zusammenhänge noch im Dunkeln liegen, dürfte die Polizei gut beraten sein, die blutige Chronik dieses Dorfs nicht außer Acht zu lassen. Mord verjährt nicht. Vielleicht wird sich doch endlich jemand für die Taten verantworten müssen, die aus Montesecco den lebensgefährlichsten Ort Italiens machten.
    »Völlig richtig«, sagte Ivan Garzone zum Verfasser des Artikels, als er ihn unter seinen Gästen ausfindig gemacht hatte. »Hier ist wirklich der gefährlichste Ort Italiens. Zumindest für Sie! Und jetzt raus aus meiner Bar!«
    Der Journalist protestierte, berief sich auf die Pressefreiheit und versuchte zu argumentieren. Was sei denn falsch an seinem Artikel?
    »Alles«, sagte Ivan.
    Wenn ihm ein sachlicher Fehler nachgewiesen werden könne, nur ein einziger, werde er freiwillig gehen, meinte der Journalist. Sonst nicht. Das sähe er gar nicht ein.
    »Ich erteile Ihnen hiermit Hausverbot«, sagte Ivan.
    »Weil ich die Wahrheit geschrieben habe?«, fragte der Journalist. Seine Kollegen murrten. Einer sagte, dass für ein Hausverbot handfeste Gründe nötig seien. Etwa, wenn jemand die Zeche geprellt oder eine Schlägerei angezettelt habe. Aber selbst der Hausherr könne keinen aus einer öffentlichen Bar verweisen, nur weil ihm dessen Nase nicht passe. Oder dessen Meinung. Das verstoße gegen die Grundrechte. Man könne ja auch niemanden hinauswerfen, nur weil er Jude oder Moslem oder schwul sei. Wenn dagegen Klage eingereicht würde, gäbe es kein Gericht in der zivilisierten Welt, das nicht …
    »Hinaus!« Ivan schubste den Reporter von La Voce del Mezzogiorno Richtung Tür.
    »Wenn er gehen muss, gehen wir auch«, sagte einer der anderen Medienleute.
    »Das trifft sich gut«, sagte Marta Garzone. »Wir wollten sowieso gerade dichtmachen.«
    Eine Viertelstunde später war die Bar leer. Ivan sperrte von außen ab, und Marta hängte einen Zettel an die Tür, der besagte, dass wegen eines Trauerfalls bis auf Weiteres geschlossen sei. Das war nicht einmal völlig gelogen. Der Zeitungsartikel hatte die Garzones so fassungslos wie der plötzliche Verlust eines nahen Verwandten zurückgelassen. Geschäft hin oder her, man konnte nicht zur Tagesordnung übergehen, bevor man nicht einigermaßen begriffen hatte, was eigentlich geschehen war.
    Die anderen Bewohner Monteseccos reagierten ähnlich. Der alte Franco Marcantoni ging von Haus zu Haus und erklärte allen, ob sie es hören wollten oder nicht, dass der Schreiberling eine Milchmädchenrechnung aufgemacht habe. Unredlich sei schon mal, den Mord an Malavogliaund seinem Fahrer einzubeziehen. So tragisch das Verbrechen sei, es habe sich ja nicht einmal innerhalb des Dorfs ereignet. Im Übrigen könne man die Todesfälle nicht auf die Einwohnerzahl hochrechnen. Wenn zum Beispiel einmal eines der wenigen Autos, die von hier ins Nevola-Tal hinabfuhren, aus einer Kurve rutschte, würde doch auch niemand behaupten, dass dieser Feldweg gefährlicher als die Autostrada del Sole sei, nur weil sich dort nicht jeden Tag zehntausend Autos überschlugen. Man müsse sich nur vorstellen, dass Person A täglich von Montesecco nach Madonna del Piano fahre und Person B zum Beispiel von Bologna nach Florenz. Letztere habe statistisch jeden zweiten oder dritten Tag die Chance, in einen Unfall zu geraten, Erstere vielleicht einmal in zehn Jahren. Wenn überhaupt. Franco Marcantoni fuchtelte mit dem Zeigefinger. Ob jeder verstanden habe, was er meine?
    »Natürlich«, sagte Angelo Sgreccia. »Und außerdem ist mein Vater wirklich eines natürlichen Todes gestorben.«
    Franco nickte.
    »An Altersschwäche«, sagte Angelo Sgreccia. »Er war zweiundachtzig Jahre alt. Da ist es doch kein Wunder, wenn …«
    »Nein«, sagte Franco.
    »Er ist ja auch untersucht worden. Oben habe ich den Totenschein«, sagte Angelo.
    Franco nickte.
    »Und wenn Gianmaria Curzio damals etwas anderes behauptet hat,«, sagte Angelo, »dann nur, weil er sich nicht damit abfinden konnte, dass sein Kumpel tot war.«
    »Das wissen wir doch alle«, sagte Franco.
    »Weil immer einer schuld sein muss«, sagte Angelo, »weil verdammt noch mal niemand akzeptieren kann, dass etwas ist, wie es ist.«
    In der Tat war das schwierig. Vor allem, wenn man sich, seine Verstorbenen, die Verwandten und Nachbarn alsHauptdarsteller einer Horrorgeschichte wiederfand. Dass die Nachnamen abgekürzt waren, änderte nichts. So viele Ivan G.s und Minh V.s gab es nicht unter den fünfundzwanzig Einwohnern

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