Die Augen der Medusa
Einsatzleitung und technische Abteilung. Die Sebastianskapelle neben der Bar hatten sich die Sanitäter unter den Nagel gerissen.
Wo sie nun bitte schön beten solle, hatte Lidia Marcantoni gefragt. Sie wusste schon, dass Gott einen überall hörte, aber für sie war es doch nicht das Gleiche. Wozu gab es sonst Kirchen? Außerdem wollte sie gern vor dem Muttergottesaltar eine Kerze anzünden. Das wurde ihr nach einigem Hin und Her gestattet. Voll böser Vorahnungen trat sie ein. Die Kirchenbänke waren umgestellt und als Raumteiler missbraucht worden. Auf dem vorderstenMatratzenlager kauerten fünf Polizisten wie bei einem Trinkgelage im alten Rom. Sie spielten Karten. Lidia erlaubte sich, daran zu erinnern, dass Jesus schon in jungen Jahren alle aus dem Tempel gejagt hatte, die den heiligen Ort entweiht hatten.
»Wir spielen doch nur ein paar Runden Poker«, sagte ein Polizist.
»Wir haben zwölf Stunden Wache geschoben«, sagte der zweite.
»Nun zünden Sie Ihre Kerze schon an!«, sagte der dritte.
Lidia verzichtete. Sie würde das erst wieder tun, wenn sie nicht befürchten musste, dass sich ein Polizist daran seine Zigarette ansteckte. Kaum zu Hause angekommen, beschwerte sie sich telefonisch bei der Diözesanleitung. Dort verstand man ihre Bedenken, gab aber vor, nichts tun zu können. Unter den gegebenen Umständen müsse man die amtlichen Stellen vorbehaltlos unterstützen.
Schwerer hatten es die Medienvertreter. Die ehemalige Schule lag in der Sperrzone an der Piazza, und sonst gab es keine öffentlichen Gebäude, in denen sie unterkommen konnten. Wollten sie vor Ort bleiben, waren sie auf Privatquartiere angewiesen. Doch außer Donatos Schlafzimmer, das sich Canale 5 exklusiv gesichert hatte, konnte bisher kaum ein weiteres Objekt angemietet werden. Trotz sehr anständiger Angebote weigerten sich einige Hausbesitzer schlicht, andere sahen keine Möglichkeit, weil ihre Zimmer mit ausquartierten Piazza-Anliegern schon überbelegt waren.
Die besten Chancen boten noch die verrammelten Häuser, deren Besitzer allenfalls in den Sommerferien in ihren Heimatort zurückkehrten, doch auch das gestaltete sich schwieriger als vermutet. Oft gelang es nicht einmal, mit den Hauseigentümern Kontakt aufzunehmen, auch weil diejenigen von ihnen, die es irgendwie ermöglichen konnten, aus Deutschland oder Belgien aufgebrochen waren und gerade über schneeglatte Alpenpässe schlitterten. WennMontesecco schon einmal europaweit in den Schlagzeilen war, wollten sie auch dabei sein.
Einige Mietverhandlungen waren noch nicht abgeschlossen, doch einen greifbaren Erfolg konnte nur die Rai vorweisen. Ihr war allerdings ein Mediencoup gelungen, dem die Konkurrenz neidvoll Beifall klatschen musste. Der staatliche Sender hatte seine strukturellen Vorteile ausgenutzt und seinen USA-Korrespondenten von Washington nach Detroit geschickt, wo ein Sohn Monteseccos, der von allen nur Americano genannt wurde, zwei Pizzerie betrieb. Der Rai-Korrespondent, der aus der Nachbarregion Umbrien stammte und des marchigianischen Dialekts einigermaßen mächtig war, brauchte keine halbe Stunde, um sich mit dem Americano zu verbrüdern. Zehn Minuten darauf hatte er ausgerechnet den am weitesten von seiner Heimat Versprengten dazu überredet, sein Haus in Montesecco der Rai zur Verfügung zu stellen. Noch dazu unentgeltlich.
»Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst«, hatte der Americano gesagt. Dann hatte er mitgeteilt, wo der Zweitschlüssel abzuholen sei, und mit dem Korrespondenten ein paar Grappe gekippt. Die Medienleute vor Ort nannten das Haus des Americano inzwischen den Rai-Palast. Für hiesige Verhältnisse war es ein stattliches Gebäude, das nur den Nachteil hatte, keinerlei Sicht auf die Piazza oder den Schlupfwinkel des Geiselnehmers zu gewähren. Dafür war die Bar gleich um die Ecke.
Dort hingen außer den Presseleuten die Schaulustigen herum. Was sollten sie sonst tun? Aus der ganzen Provinz Pesaro-Urbino und darüber hinaus waren sie angereist, nur um in Eiseskälte vor Polizeiabsperrungen zu stehen, an denen nichts geschah und hinter denen nichts zu erkennen war. Bevor sie zu ihren weit draußen geparkten Autos zurückmarschierten, wollten sie sich wenigstens einen Caffè gönnen und vielleicht ein paar Worte mit einem Reporter wechseln, dessen Gesicht sie aus dem Fernsehen kannten.
Aus Montesecco selbst verirrte sich kaum mehr einer in die Bar. Dass die Stammplätze, auf denen man
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