Die Augen der Medusa
Schlagzeile. Auf der dritten Seite. Unter der Rubrik Hintergrund . Vier harmlose stinkende Worte in dicken Lettern: Die Saat der Gewalt . Die etwas kleinere Überschrift darunter lautete: Montesecco – das kriminellste Dorf Italiens . Und dann ging der Artikel los.
Wer in Neapel abends durchs Quartiere Spagnolo spaziert, weiß, was er riskiert. Als Ladenbesitzer in Palermo hat man die Wahl, Schutzgelder zu zahlen oder bald einen Laden besessen zu haben, und im kalabresischen San Luca schlachten sich die verfeindeten ’Ndrangheta-Familien gegenseitig ab. Doch der gefährlichste Ort Italiens ist anderswo. Er liegt nicht im desolaten Mezzogiorno und ist nicht für seine Mafia-Clans bekannt. Das kriminellste Dorf Italiens befindet sich in der marchigianischen Provinz.
Montesecco hat sicher einmal bessere Zeiten gesehen. Nun fällt der Putz von den Mauern der meist längst verlassenen Häuser. Fünfundzwanzig Einwohner sind übrig geblieben. Nur selten huscht einer von ihnen schweigsam und misstrauisch durch die Gassen, um sich schnell wieder in den eigenen vier Wänden zu verbarrikadieren. Und er hat allen Grund dazu. Nicht erst, seit ein in Montesecco geborener und aufgewachsener Geiselnehmer ganz Italien in Atem hält. Nicht erst, seit Oberstaatsanwalt Malavoglia und sein Fahrer hier ermordet wurden.
In Montesecco regiert die Gewalt seit langem. Eine blutige Spur zieht sich durch die Generationen, und jede schreckliche Tat scheint unweigerlich eine noch schrecklichere zu gebären. Allein in den letzten siebzehn Jahren mussten hier sieben Menschen ihr Leben lassen, teils unter höchst mysteriösen Umständen, teils durch eindeutige Morde. Das sind achtundzwanzig Prozent der durchschnittlichen Einwohnerzahl! Hochgerechnet hätte Neapel mit seiner Million Einwohner im gleichen Zeitraum zweihundertachtzigtausend Opfer von Bluttaten verzeichnen müssen. Dass Montesecco ein quasi rechtsfreier Raum ist, zeigt auch ein anderes beunruhigendes Faktum: Die Aufklärungsquote liegt bei null Prozent. Für kein einziges Kapitalverbrechen konnte ein Täter rechtskräftig verurteilt werden. Doch die Bilanz Monteseccos im Einzelnen:
In den frühen neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts starb Giorgio L. anscheinend an den Folgen eines Vipernbisses. Die zuständigen Stellen taten anfangs mit einem Achselzucken ab, dass der kräftige Mann stundenlang nicht versucht hatte, Hilfe zu finden, und dass seine Leiche fern vom Unglücksort aufgefunden wurde. Nur der Vater des Toten, Carlo L., prangerte zwei Tage lang ununterbrochen den Mord an seinem Sohn an. Dann kam er selbst ums Leben. Die Polizei konstatierte einen Motorradunfall. Ob jemand Carlo L. zum Schweigen bringen wollte, konnte nicht herausgefunden werden. Die viel zu zögerlich angelaufenen Ermittlungen wurden von einigen Dorfbewohnern massiv behindert. Selbst mit dem Gebrauch von Schusswaffen soll dabei gedroht worden sein. Als endlich Paolo G. ins Visier der Polizei geriet, konnte er nicht mehr vernommen werden, da er – welch ein Zufall – kurz zuvor ebenfalls an Viperngift gestorben war. Die damaligen Ermittler vermuteten einen Racheakt, vermochten aber nichts nachzuweisen. Der Fall wurde zu den Akten gelegt. Doch in Montesecco vergaß man nicht. Man wartete nur auf eine günstige Gelegenheit.
Die ergab sich Jahre später. Der zweiundachtzigjährige Benito S. starb angeblich eines natürlichen Todes. Seltsam nur, dass das geschah, als er gerade begonnen hatte, sein heimlich angehäuftes Vermögen mit vollen Händen auszugeben. Um das Erbe entbrannten jedenfalls erbitterte Auseinandersetzungen, in die Ivan G., ein Cousin des Jahre zuvor so passend verstorbenen Paolo G., maßgeblich verstrickt war. Der Streit gipfelte in der Entführung eines achtjährigen Jungen. Ein von Ivan G. deswegen engagierter Privatdetektiv wurde mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Leiche Nummer fünf. Die Polizei verhaftete als mutmaßliche Täterin Sabrina L., die später aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde. Es handelte sich um niemand anderen als die älteste Tochter von Giorgio L., dem ersten Vipernopfer. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Montesecco im Jahr 2008. Ganz Italien wird Zeuge des dritten Akts der Tragödie. Die Gespenster der Vergangenheit kehren zurück und fordern mit Malavoglia und seinem Fahrer ihre vorläufig letzten Opfer. Wen wundert es, dass der Geiselnehmer und mutmaßliche Attentäter Minh V. identisch mit dem Jungen ist, der vor neun Jahren entführt
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