Die Augen der Medusa
wenigstens behaupteten die Mitarbeiter des Privatsenders, von denen sich an diesem Morgen mehr in Montesecco als im gesamten restlichen Italien aufzuhalten schienen. Öffentlich wurde nicht kundgetan, wie sie den Krisenstab unter Druck gesetzt hatten, aber man konnte es aus den Kommentaren unschwer erschließen. Die Sprecher wiesen darauf hin, dass es sich unwiderruflich um die letzte Chance handle, das Geiseldrama ohne zusätzliches Blutvergießen zu beenden. Die Drohung, die dabei mitschwang, war klar: Wenn die Einsatzleitung diesen Versuch durch ein vorzeitiges und wahrscheinlich blutig endendes Losschlagen vereitelte, würde sie – und mit ihr die politisch Verantwortlichen – von den Medien unbarmherzig in der Luft zerrissen werden. Selbst rechtliche Schritte gegen die Polizei wegen unterlassener Hilfeleistung und Beihilfe zum Mord waren angedacht worden, wie einer der Redakteure hinter vorgehaltener Hand verlauten ließ.
Solche Reaktionen wären durch die Empörung der Journalisten, die sich um den Coup des Jahres betrogen gesehen hätten, schon motiviert genug gewesen. Doch das war es nicht allein. Die Leute von Italia 1 schienen von ihrer Initiative tatsächlich überzeugt zu sein. Sie wollten an ein Wunder glauben, auch wenn sie sich noch so professionell gaben. Wann hatten Sensationsjournalisten schon mal die Möglichkeit, mit ihrer Arbeit Menschenleben zu retten?
Der Mann, der dies mit ihrer Hilfe bewerkstelligen sollte, war ein einundvierzigjähriger Vietnamese namens Nguyen Thi Han, dessen Eltern kurz nach der Tet-Offensive derVietcong geflohen waren und ihn samt seiner älteren Geschwister nach Frankreich gebracht hatten. Dort war er aufgewachsen, hatte nach diversen Jobs in einem auf asiatische Kunst spezialisierten Antiquitätengeschäft eine Stelle als Verkäufer gefunden, die er ohne größere Ambitionen bis heute innehatte. Seine große Leidenschaft bestand darin, Motorrad zu fahren. Seit er verheiratet war und Kinder hatte, machte er nur noch gelegentlich am Wochenende die französischen Landstraßen unsicher. Früher hatte er in jedem Urlaub seine Maschine für eine größere Tour gepackt.
Vor achtzehn Jahren war er mit seiner ersten, gebraucht gekauften Moto Guzzi, einer V65 Lario, nach Italien aufgebrochen. Da es Februar und somit nicht unbedingt die beste Motorradsaison gewesen war, hatte er ohne große Umwege in den warmen Süden gelangen wollen, erst nach Apulien und dann weiter längs der Küste Richtung Sizilien. Durch Frankreich hatte er die Autobahn genommen, doch als er die Alpen hinter sich hatte, war er auf kleinere Straßen ausgewichen. Dass er am Abend gerade bis in ein kleines marchigianisches Städtchen namens Pergola gekommen war, war reiner Zufall gewesen. Und ebenso, dass er auf der Suche nach einem billigen Hotel ein junges Mädchen gefragt hatte, das ihn dann einlud, mit auf ein Karnevalsfest zu gehen. Sie waren eine Nacht und einen halben Tag zusammen gewesen. Dann war er weitergefahren. Er hatte sie nie wieder gesehen.
Von damals geblieben waren ihm ein Vorname, Catia, und ein Foto, auf dem das Mädchen in die Kamera lachte. Eine Ecke des Fotos war geknickt, die Farben schon etwas verblasst. Dennoch waren die Gesichtszüge des Mädchens gut zu erkennen. Gott sei Dank, denn natürlich musste die Identität überprüft werden, bevor man mit so einer Geschichte an die Öffentlichkeit ging. Catia Vannoni selbst konnte nicht befragt werden, da sie bewusstlos auf der Intensivstation des Krankenhauses in Anconalag. Von den wenigen anderen Dorfbewohnern, die die Reporter von Italia 1 zu Gesicht bekamen, wurde ihnen sofort die Tür vor der Nase zugeschlagen.
In dieser Notsituation hatte einer der jungen, ehrgeizigen Kollegen die Idee, in Catias Haus nach alten Fotoalben zu suchen. Er würde das unbefugte Eindringen auf seine Kappe nehmen und notfalls dafür vor Gericht erscheinen. Schließlich ging es um Leben oder Tod. Er hatte gewartet, bis Marisa Curzio das Haus kurz verlassen hatte, und war durch die Tür geschlüpft. Zwar hatte er kein Foto von Nguyen gefunden, wie er gehofft hatte, dafür aber eine ganze Reihe, die Catia im Alter von sechzehn und siebzehn Jahren zeigten. Er war sich gleich sicher gewesen, doch der Sender hatte darauf bestanden, die Vergleichsfotos einem Experten vorzulegen. Danach gab es keinen Zweifel mehr. Es handelte sich um dieselbe Person. Um Catia Vannoni. Achtzehn Jahre, nachdem Nguyen mit ihr ins Bett gegangen war, erfuhr er so, dass er dabei
Weitere Kostenlose Bücher