Die Augen der Medusa
siebzehn Jahre lang nichts geahnt hatte?
»Genau das! Ein besserer Anfang ist doch kaum zu finden!«, meinte der Ressortleiter von Italia 1 und wies seine Sekretärin an mitzustenografieren. »Aber bevor wir uns einzelnen Formulierungen zuwenden, sollten wir kurz den gedanklichen Aufbau Ihrer Ansprache skizzieren. Ichwürde folgende Schritte vorschlagen: Zuerst stellen wir Ihre eigene Unsicherheit heraus. Das wirkt sympathisch und ehrlich. Es muss uns gelingen, eine halbwegs positive Grundstimmung bei dem Jungen zu erzeugen. Als Zweites sollten wir die Besonderheit des Augenblicks verdeutlichen. Ein Vater trifft zum ersten Mal auf seinen Sohn. Das ist wichtiger als alles andere auf der Welt. Daraus sollte drittens eine Perspektive für Minh erwachsen. Wir zeigen, dass Sie nichts dringlicher wünschen, als eine persönliche Beziehung zu ihm aufzubauen. Sie beide haben ja so viel nachzuholen! Und als Letztes geben Sie ihm die Möglichkeit, selbst einen kleinen Beitrag zu leisten. Damit alles gut wird, muss Minh nur mit erhobenen Händen aus der Tür treten. Ein paar kleine Schritte, das ist alles, was Sie von ihm erbitten.«
Die Sekretärin übersetzte. Nguyen hörte aufmerksam zu und neigte dann zustimmend den Kopf.
»Hat er alles verstanden?«, fragte der Ressortleiter.
»Oui«, sagte Nguyen.
»Dann mache ich mich mal an die Ausarbeitung«, sagte der Ressortleiter. Während er der Sekretärin diktierte, Formulierungen ausprobierte und wieder verwarf, schwierig auszusprechende oder eventuell missverständlich klingende Worte vermied, den Duktus der Rede mal flüssig, mal emotional gebrochen zu gestalten suchte, schaute Nguyen aus dem Fenster des Alfa Romeo.
Wegen des Nebels war kaum etwas zu erkennen. Die sanften Hügel des Küstenhinterlands verschwammen im düsteren Grau, die Burgen und kleinen Wehrdörfer auf den Anhöhen wurden völlig verschluckt. Bei Marotta verließ der Fahrer die Autostrada, doch auch auf der Strecke längs des Cesano-Tals blieb die Suppe dick. Erst als er hinter San Lorenzo links abbog und den Wagen die Serpentinen nach Montesecco hochklettern ließ, durchstießen sie die Nebeldecke. Was vorher grau und undurchdringlich gewirkt hatte, erschien von oben wie weiße Flocken gerupfterBaumwolle, die dicht und doch luftig in die Täler gestreut worden waren. Auf den Inseln, die darüber hinausragten, glitzerte der Schnee.
Der Ressortleiter hatte keinen Blick dafür. Mit dem Handy gab er seinen Leuten in Montesecco die nötigen Anweisungen. An der Straßensperre am Ortseingang gab es noch einmal eine Verzögerung, doch schließlich winkten die Polizisten das eigentlich nicht zur Durchfahrt berechtigte Zivilfahrzeug durch, so dass der Chauffeur beim Pfarrhaus vorfahren konnte. Als Nguyen ausstieg, hatten die Männer von Italia 1 den Wagen schon abgeschirmt. Natürlich hatte die Konkurrenz von den anderen Medien mitbekommen, was im Gange war, und so war auf der Piazzetta der Teufel los. Dass die Fotoreporter ihre Kameras hoch über die Köpfe hielten und aufs Geratewohl abdrückten, war kaum zu verhindern, auch wenn der Ressortleiter und seine Sekretärin Nguyen in die Mitte nahmen und ihn schnellstmöglich zur Tür des Pfarrhauses zerrten.
»Kein Kommentar!«, brüllte der Ressortleiter gegen die Welle der Fragen an, die hinter ihnen her schwappte. Dann schlug er die Tür von innen zu.
Die Einsatzleitung im ersten Stock des Pfarrhauses hatte sich vorbereitet. Man legte Nguyen ein Schriftstück vor, mit dem er versicherte, sich auf eigenes Risiko und gegen den Rat der Polizei in die Sperrzone an der Piazza zu begeben. Falls er zu Schaden komme, würde er auf jede Art von Regressforderungen verzichten. Nguyen unterzeichnete kommentarlos. Der Questore schärfte ihm ein, dass er sich dem Schlupfwinkel des Geiselnehmers trotzdem unter keinen Umständen nähern dürfe. Sonst wäre die Show schnell vorbei. Nguyen nickte.
»Dann viel Glück!«, sagte der Questore.
Einer der Polizisten drückte Nguyen ein Megafon in die Hand und erklärte ihm dessen Funktionsweise. Der Ressortleiter versuchte indessen, beim Questore eine Räumungder Piazzetta und der anschließenden Gasse zu erwirken, biss dabei aber auf Granit. Italia 1 habe dieses Spektakel in Gang gesetzt und brauche sich nicht zu beschweren, wenn es jetzt stattfinde. Die staatlichen Stellen würden alle Medien gleich behandeln, und das heiße auch, dass niemand außer dem Dolmetscher Nguyen in die Sperrzone begleiten dürfe. Mit Mühe und nur
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