Die Augen der Medusa
einen Sohn gezeugt hatte, der gerade ganz Italien in Atem hielt.
Auf welche Weise und unter welchen Umständen die Reporter von Italia 1 den völlig überraschten Vater in Paris aufgetrieben hatten, blieb vorerst ein streng gehütetes Geheimnis. Wahrscheinlich waren die Mitarbeiter im Sender schon dabei, eine Dokumentation über die dramatische Suche zu erarbeiten und entscheidende Stationen szenisch nachzustellen. Wenn alles so lief, wie man es sich erhoffte, musste man ja Hintergrundberichte nachschieben können.
Im Augenblick jedoch strahlte der Sender ein Interview mit einer Mailänder Psychologieprofessorin aus, die sich sehr vorsichtig über die Erfolgsaussichten der geplanten Aktion äußerte. Auf entsprechende Nachfragen gab sie aber zu, dass eine Konfrontation mit dem ein Leben lang vermissten Vater durchaus einschneidende Verhaltensänderungen auslösen könne. Zumal bei einer so angespanntenemotionalen Verfassung, in der sich der Geiselnehmer ohne Zweifel befinde.
»Sie meinen also nicht, dass M. auch seinen Vater mit Schüssen empfangen würde, wie er es bei seiner Mutter getan hat?« , fragte die Interviewerin im Fernsehen.
»Ich weiß zu wenig über den Jungen, um das ausschließen zu können« , sagte die Professorin, »ich würde jedoch vermuten, dass seine bisherigen Lebenserfahrungen nicht unerheblich dazu beigetragen haben, ihn eine solch schreckliche Tat begehen zu lassen. Die Mutter ist Teil dieser Erfahrungen, der Vater nicht.«
Der Krisenstab hatte strikt abgelehnt, den Vietnamesen bis zu Minhs Büro vordringen zu lassen, als Italia 1 diesbezüglich vorgefühlt hatte. Ein Desaster wie beim Durchbruch von Catia Vannoni konnte man sich kein zweites Mal leisten. Es sei schließlich nicht Aufgabe der Polizei, dem Täter dauernd neue Opfer zuzuführen, hatte der Questore geknurrt. Von ihm aus durfte der frisch gebackene Vater sein Glück versuchen, aber mit einem Megafon von der gegenüberliegenden Seite der Piazza aus. Sollte er sich nur zwei Schritte auf Minhs Büro zu bewegen, würden ihn die an der Hausecke postierten Polizisten mit Gewalt zurückholen.
Den Verhandlungsführern von Italia 1 blieb nichts anderes übrig, als sich damit einverstanden zu erklären. Insgeheim hofften sie wohl auf eine Entwicklung, die diese Absprache von selbst über den Haufen werfen würde. Und immerhin hatte die Vorgabe des Krisenstabs den Vorzug, dass Nguyen am östlichen Ende der Piazza von den Kameras des Senders erfasst werden konnte. Die entsprechenden Standorte wurden schon mal besetzt.
Nguyen war allerdings noch nicht in Montesecco eingetroffen. Italia 1 hatte ihn von Paris/Charles de Gaulle nach Mailand fliegen lassen, wo ihn ein Mitarbeiter zum Anschlussflug nach Falconara dirigierte. Wegen dichten Bodennebels an der ganzen adriatischen Küste musste der Pilotjedoch bis Pescara ausweichen, was das Empfangskomitee des Senders nötigte, die Autostrada nach Süden schneller hinabzubrettern, als es die Wetterverhältnisse eigentlich erlaubten. Nguyen wartete trotzdem schon in der Ankunftshalle des Flughafens, als die Reporter eintrafen.
Er war ein mittelgroßer, elegant gekleideter Mann mit sorgfältig nach hinten gegeltem pechschwarzem Haar und Händen, die wie manikürt aussahen. Auf einer 650er Moto Guzzi konnte man ihn sich schwer vorstellen. Der Ressortleiter Politik und Gesellschaft entschuldigte sich für die Verspätung und begrüßte den Gast mit dem ernsten Gesichtsausdruck, der dem dramatischen Anlass angemessen war. Die Sekretärin übersetzte und bat, das Köfferchen abnehmen zu dürfen.
Auf der Rückfahrt Richtung Montesecco begann das Briefing. Natürlich wollte man Herrn Nguyen Thi Han nicht vorschreiben, was er zu sagen habe, aber da er des Italienischen kaum mächtig sei und Minh andererseits kein Französisch spreche, müsse man seinen Text Wort für Wort vorbereiten. Ein Dolmetscher sei zwar an Ort und Stelle, zumindest die ersten, vielleicht alles entscheidenden Sätze sollten jedoch ohne Vermittler vom Vater zum Sohn gelangen. Ob Nguyen kapierte, dass es dabei auch um die Verständlichkeit für die italienischen Fernsehzuschauer ging, war nicht zu erkennen. Er stimmte jedenfalls zu, war vielleicht froh, dass ihm jemand zur Seite stand. Ohne zu zögern, hatte er sich bereit erklärt, nach Italien aufzubrechen, doch je näher er nun Montesecco kam, desto mehr schien er zu befürchten, der Verantwortung nicht gerecht zu werden. Was sagte man einem Sohn, von dessen Existenz man
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