Die Augen der Medusa
auf den Fernseher. »Das ist mein Dorf.«
»Das ist unsere berühmte Frau Marcantoni«, sagte der Mann im weißen Kittel zu seiner Kollegin.
Auf der Piazza von Montesecco stand ein asiatisch aussehender Mann mit einem Megafon in der Hand. Ein Japaner? Und plötzlich fiel Costanza alles wieder ein. Dass Krieg herrschte. Dass ihr Dorf besetzt war. Dass die Resistenza den einmarschierten Deutschen erbittert Widerstand leistete. Costanza fragte: »Sind die Japaner nicht mit den Deutschen verbündet?«
»Sie sollten sich ein wenig ausruhen, Frau Marcantoni«, sagte die Frau im weißen Kittel.
Nun erinnerte sich Costanza auch, dass sie festgenommen worden war. Die Deutschen oder ihre Helfershelfer hatten sie verschleppt, und jetzt befand sie sich in einem Internierungslager!
»Ein Schläfchen täte Ihnen sicher gut«, sagte der Mann im weißen Kittel. »Aber vorher nehmen wir noch unsere Tabletten!«
»Tabletten?«
»Die Ihnen der Doktor verschrieben hat.«
Costanza wich einen Schritt Richtung Tür zurück. Tabletten hatte sie noch nie gebraucht. Sie war doch nicht krank! Wer wusste schon, was das für Tabletten waren? Gift, Betäubungsmittel, irgendeine Droge, um Costanzas Willen zu brechen? Die Deutschen wollten sie ausschalten! Costanza drehte sich um, trat auf den Gang hinaus und trippelte, so schnell es ihre nackten Füße erlaubten, auf die Tür an dessen Ende zu.
»Frau Marcantoni!«, rief ihr der Mann in Weiß nach. Sie musste fliehen. Die Deutschen würden sie nie mehr freilassen. Bis an ihr Lebensende nicht. Da war sie sich sicher. Schwer atmend erreichte Costanza die Tür. Sie rüttelte an der Klinke. Abgeschlossen! Sie hatte es ja gewusst. Costanza sah sich um. Die beiden Lageraufseher kamen gemächlich auf sie zu. Costanza schlug in Panik mit der flachen Hand gegen die Tür. Sie wollte um Hilfe rufen, brachte aber keinen Ton hervor.
Die Frau im weißen Kittel schüttelte den Kopf. »Aber Frau Marcantoni!«
»Sie werden uns doch nicht ausbüchsen wollen«, sagte der Mann. Er lachte, griff Costanza um die Schulter und zog sie von der Tür, die ins Leben zurückführte, weg.
Seit über vierundzwanzig Stunden hatte Marisa Curzio nichts mehr gegessen, obwohl in Catias Haus genügend Vorräte vorhanden waren. Eine Entschlackung und ein paar Gramm weniger konnten ihr nicht schaden, aber das war nicht der Grund für ihr Fasten. Sie hatte einfach kein Verlangen verspürt, etwas zu sich zu nehmen. Außer Kräutertee. Sie wechselte zwischen Pfefferminze und Kamille ab, je nachdem, ob sie Anregung brauchte oder sich innerlich sammeln wollte. Die Zuckerdose hatte sie wieder in den Schrank gestellt. Ungesüßt schmeckte der Tee sowieso besser.
Marisa fühlte sich ausgezeichnet. Kein bisschen hungrig, dafür klarsichtig, wach, leicht, ja fast ein wenig über den Dingen schwebend. Das Grummeln in ihrem Magen hatte vor ein paar Stunden aufgehört, und jetzt störte sie nichts mehr dabei, über den entscheidenden Anruf nachzudenken, den sie soeben erhalten hatte. Angela, ihre Urlaubsbekanntschaft aus Grottaferrata, hatte über Gewerkschaftsverbindungen eine Frau aufgetrieben, die als Sekretärin bei der Staatsanwaltschaft Rom arbeitete. Mit Malavoglia selbst hatte sie nichts zu tun gehabt, aber natürlich wurdein allen Büros und auf jedem Flur nur über den Mord am obersten Chef diskutiert. Aus welchem Grund Malavoglia nach Montesecco gefahren war, war einer der umstrittenen Punkte. Angelas Gewährsfrau hatte glaubhaft versichert, dass ihr keinerlei Unterlagen dazu untergekommen seien und dass sie nach Gesprächen mit Kolleginnen bezweifle, ob es solche überhaupt gäbe. Dementsprechend brodelte die Gerüchteküche.
Dabei hatten sich zwei Fraktionen herausgebildet, die sich gleichermaßen auf Andeutungen und vertrauliche Mitteilungen Malavoglias seinen engsten Mitarbeitern gegenüber beriefen. Es schien fast, als hätte er selbst absichtlich Verwirrung gestiftet. Die einen behaupteten jedenfalls, es ginge um eine neue Generation der Roten Brigaden. Der Oberstaatsanwalt hätte vorgehabt, in Montesecco Waffen, Strategiepapiere und Anschlagspläne sicherzustellen, die Minh in einem Erdbunker außerhalb des Dorfs entdeckt haben wollte, nachdem er dort verdächtige Personen beobachtet hatte. Die anderen meinten, dass von Terrorismus nie die Rede gewesen sei, sondern von einem Korruptionsfall, in den allerhöchste Kreise verwickelt wären. Minh habe vorgegeben, das Verschlüsselungssystem eines Internet-Netzwerks
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