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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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auf Fürsprache des Vietnamesen konnte der Ressortleiter für sich selbst eine Ausnahme durchsetzen.
    Es war kurz nach 15 Uhr, als sie endlich aufbrachen. Mit einem wie eingemeißelt wirkenden Lächeln ließ sich Nguyen durch die Masse der aufgeregten Medienvertreter schieben. Erst hinter der Absperrung hörte das Gedränge auf. Ein halbes Dutzend Polizisten kam bis zum Ende der Gasse mit. Im Schutz des letzten Hauses blieben auch der Ressortleiter von Italia 1 und der Dolmetscher zurück. Ganz allein trat Nguyen auf die Piazza hinaus. In seiner rechten Hand hielt er das Megafon, in der linken den Zettel, auf dem seine Ansprache in Lautschrift notiert war.
    »Das Haus, zu dem die Stufen hinaufführen. Ganz hinten rechts«, flüsterte der Dolmetscher.
    Nguyen stellte sich in Positur. Er hob das Megafon vor den Mund und ließ es wieder sinken. Dann blickte er seitlich zu den anderen. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.
    »Einfach ablesen!« Der Dolmetscher bedeutete ihm mit ausgestrecktem Daumen, dass alles in Ordnung sei.
    Nguyen nickte. Er setzte das Megafon wieder an, hob den Zettel etwas höher. Ein paar Sekunden lang geschah nichts. Die Welt war totenstill und schockgefroren und hatte wahrscheinlich gerade aufgehört, sich zu drehen. Doch das interessierte niemanden. Man wartete auf die Rede von Nguyen. Endlich schallten die ersten Worte aus dem Trichter: »Minh, hier spricht dein Vater!«
    Die Aussprache des Vietnamesen war ordentlich, die Lautstärke mehr als ausreichend. Selbst durch die geschlossenenFenster von Minhs Büro würde jeder Ton deutlich zu verstehen sein. Alles lief bestens. Es gab nicht den geringsten Grund, jetzt nicht weiterzusprechen.
    »Sehr gut! Wunderbar!«, zischte der Ressortleiter. »Und jetzt den Text! Los, den Text!«
    Nguyen nickte. Er starrte auf das Blatt Papier in seiner Hand. Er nickte wieder. Seine Hand krampfte sich um den Griff des Megafons.
    »Was ist?«, flüsterte der Dolmetscher.
    Nguyen öffnete den Mund. Er schüttelte den Kopf.
    »Was um Himmels willen ist los?«, fragte der Dolmetscher.
    »Ich kann nicht«, sagte Nguyen auf Französisch. Die Worte hallten verstärkt über die ganze Piazza hinweg.
    »Es geht um Ihren verdammten Sohn!« Der Ressortleiter machte Anstalten, auf die Piazza hinauszustürmen. Einer der Polizisten hielt ihn am Arm fest.
    Nguyen schüttelte noch einmal den Kopf. Dann begann er zu singen. Die Melodie klang genauso fremd wie die Worte. Wahrscheinlich ein verfluchtes vietnamesisches Volkslied, das man bei der Reisernte anstimmte oder wenn man seinen Feinden die Köpfe abgehackt hatte. Der Dolmetscher zuckte ratlos die Schultern. Er sprach Französisch, kein Vietnamesisch. Nicht einmal die ehemalige Ostasienkorrespondentin der Rai, die sich bei den anderen vor dem Pfarrhaus befand, sprach Vietnamesisch. Und Minh beherrschte außer ein wenig Schul-und Computerenglisch überhaupt keine Fremdsprache. Was sollte das also?
    Nguyens Gesang klang anfangs dünn und schütter, wurde aber bald sicherer. Man hatte jetzt den Eindruck, eine klagende Grundstimmung heraushören zu können. Vielleicht gewöhnte man sich auch nur an die exotischen Tonfolgen, die sich über die Piazza ausbreiteten und durch die Gassen Monteseccos irrten, als suchten sie nach einem Zuhause, das es nicht gab.
    Von: »Minh« [email protected]
    An: »Krisenstab« [email protected]/pesaro
    Was soll der Krach da draußen? Sagen Sie dem Witzbold, er soll mit dem Gekreische aufhören, sonst schieße ich ihm den Kehlkopf aus dem Leib!
    Von: »Krisenstab« [email protected]/pesaro
    An: »Minh« [email protected]
    Sie wissen so gut wie wir, dass die Medien Ihren Vater ausfindig gemacht haben. Gegen unseren Rat wollte er versuchen, Sie von diesem Irrsinn abzubringen. Er tut sein Möglichstes, um Ihr Leben zu retten.
    Von: »Minh« [email protected]
    An: »Krisenstab« [email protected]/pesaro
    Der Typ soll verschwinden! Er interessiert mich nicht. Mich interessiert nur, wie es mit der Freilassung der Genossen vorangeht. Und Sie sollte in diesem Zusammenhang interessieren, dass das Todesurteil gegen die Nummer 2 der Handlanger des staatlichen Repressionsapparats, Davide Sventura, um Punkt 24 Uhr vollstreckt wird.
    Von: »Krisenstab« [email protected]/pesaro
    An: »Minh« [email protected]
    Sie scheinen misszuverstehen, in welche Situation Sie sich hineinmanövriert haben, Herr Vannoni. Wie wir Ihnen im Vorfeld

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