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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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wollte.
    Das verdarb ihr den Aufenthalt an der Riviera, und deshalb reiste Esther nach England, wo sie sich in einem luxu-riösen Londoner Hotel ein paar Wochen lang von ihrem Schock erholte. Sie begegnete einigen attraktiven Leuten, ohne sich ernsthaft zu verlieben. Sie wußte, daß sie nicht der Frauentyp war, den Engländer mochten; sie war dunkelhaarig und lebhaft und hatte einen bodenständigen Witz, der ihnen offenbar nicht ganz geheuer war. Außerdem konnte sie Einladungen nicht ohne weiteres erwidern, sondern war gesellschaftlich als alleinstehende Frau das fünfte Rad am Wagen. Sie fuhr nach Paris, doch dort war außer den Rosenfelds niemand aus ihrer Bekanntschaft, und die Rosenfelds bezeichneten sich allen Ernstes als Flüchtlinge. In Deutschland ging alles den Bach hinunter.
    Die Leute seien wie gelähmt, sagten die Rosenfelds, und die Juden, die noch handeln konnten, machten, daß sie fortkamen. Esther dachte, daß die Rosenfelds allzu schwarz sähen. Sie fuhr nach England zurück in der Absicht, noch ein paar Monate zu warten, bis Klatsch und Tratsch über ihre Scheidung und die Hitler-Begeisterung der Deutschen sich gelegt haben würden, bevor sie zurückkehrte und ihren Platz in der Berliner Gesellschaft wieder einnahm, die zum Glück nicht mit den steifen Kreisen identisch war, in denen ihr Ehemann verkehrte.
    Doch dann begegnete sie ganz zufällig auf einer Cocktailparty in Chelsea Richard Friedmann. Sie hatte ihn einige Jahre zuvor in Berlin kennengelernt. Auch er erinnerte sich an sie von einer Abendgesellschaft im Haus ihres 55
    Mannes. Er schien über alle Maßen erfreut zu sein, sie zu sehen; sein häßliches, hageres, kinnloses Gesicht leuchtete vor plötzlicher Zuneigung, und seine schlechten Zähne entblößten sich zu einem jungenhaften Grinsen. Er sagte, er sei vor etwa einem Jahr nach England gekommen und arbeite für einen Verlag in Chelsea und für eine politische Zeitschrift an der Fleet Street. In einer Zimmerecke unterhielten sie sich über Deutschland. Er erzählte ihr, er habe Deutschland verlassen, weil er als Halbjude Gefahr gelaufen sei, jederzeit zur Zwangsarbeit in ein Kohlebergwerk oder an einen ähnlich gefährlichen Ort abkommandiert zu werden, was früher oder später sein Todesurteil bedeutet hätte. Das oder ein Konzentrationslager. All das sprudelte er arglos heraus, und weil er es auf deutsch erzählte, erhielt es für Esther eine Realität, die es als Zeitungslektüre nicht besessen hätte. Er lud Esther für denselben Abend zum Essen ein.
    Er gefiel ihr nicht sonderlich; er sah zweifellos alles andere als gut aus, und von seiner Arbeit konnte er sich kaum über Wasser halten, doch seine Offenheit war anziehend und ebenso sein offenkundiges Vergnügen an ihrer Gesellschaft, und Esther fand es herrlich, mit jemandem zu tun zu haben, der zwar nicht ihrem Milieu in Berlin entstammte, sich darunter aber zumindest etwas vorstellen konnte. Sie sahen sich mehrmals wöchentlich, und sonntags lud er Esther in seine Zweizimmerwohnung zum Frühstück ein, denn in ihrem möblierten Zimmer gab es keine Koch-gelegenheit. Esther, die besser Englisch sprach als Richard, überarbeitete seine Artikel für die politische Zeitschrift und tippte sie für ihn ab, weil er schlecht Schreibmaschine 56
    schrieb. Unvermeidlich kam es zu einer Samstagnacht, in der Esther nicht nach Hause ging, und von da an, verbrachten sie jedes Wochenende miteinander in Richards Wohnung. Er war nicht der überwältigendste Liebhaber, den sie je erlebt hatte, und übertrieben galant war er auch nicht. Sie hatte den Eindruck, als behandle er sie geradezu verblüffend indifferent, bedachte man ihre Herkunft und mit welchen Männern sie verkehrt hatte –bis auf eine Ausnahme Mitglieder des Hochadels –, was Richard eigentlich hätte wissen müssen. Er fragte sie nur selten nach ihrem Leben, und wenn sie antworten wollte und in Erinnerungen an Sommer in Rapallo oder Capri zu schwelgen begann, unterbrach er sie mit irgendwelchen Tagesneuigkeiten aus seinem Büro oder aus der Zeitung.
    Esther nahm eine Arbeit als Stenotypistin und Korre-spondenzfräulein bei einer Firma für Rechnungsprüfungen in einer Seitenstraße der Shaftesbury Avenue an. Die Arbeit war schlecht bezahlt und entsetzlich stupide, doch die Situation war die, daß ihr Schmuck fast gänzlich versetzt war und Richard kaum für ihren Unterhalt aufkommen konnte. Hin und wieder besuchte sie noch vornehme Parties, doch Esther war sich im klaren, daß

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