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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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zu verlassen, die so treue Freunde für sie und Richard gewesen waren – die Campbells, Tom Bradley mit Freundin Edna und die Jordans –, brach Esther fast das Herz. Tom Bradley, Edna und die Campbells mußten ihr versprechen, noch vor Weihnachten nach München zu kommen. »Ihr könnt bei uns wohnen; macht euch also keine Gedanken wegen der Reisekasse. Ich weiß, daß wir genug Platz haben werden«, sagte Esther. Als sie aufbra-chen, klopfte John Campbell Richard auf den Rücken und sagte: »Das wollte ich schon seit langem tun.« – »Was?«
    fragte Richard. – »Schau dich um!« sagte Esther lachend.
    Sie hatten ihm ein Schild aus Pappe an das Jackett geheftet, auf dem stand: »Endlich in festen Händen!«
    Sie hatten kaum Gepäck und nahmen das Flugzeug.
    Esther rückte während der kurzen niedrigen Schleifen über Frankreich und Westdeutschland nah ans Fenster, während Richard Unterlagen studierte, die ihm vom Verlag geschickt worden waren, und völliges Desinteresse am Antlitz Europas bezeigte. Esther fand das enervierend, doch sie sagte nichts. Sie hatte den Eindruck, als posiere er für jemanden, als wolle er vorgeben, er hätte diese Reise schon so oft gemacht, daß er sich an allem Sehenswerten bereits satt gesehen hatte. In München verhielt er sich nicht anders. Sein einziger Wunsch war, so schnell wie möglich Fuß zu fassen und mit der Arbeit zu beginnen.
    In der ersten Woche besuchte Esther zusammen mit Richard zwei Abendgesellschaften, auf denen sie die 63
    Beckhof-Lektoren und die Verlagsvertreter kennenlernte, die in Düsseldorf, Frankfurt und Berlin tätig waren. Mit einem freudigen Schauder registrierte sie, daß Richard als jemand Bedeutendes eingestuft wurde. Mit den Leuten auf diesen Gesellschaften kam Esther gut zurecht. Mit Schriftstellern und Intellektuellen hatte sie sich schon immer gut verstanden. Sich wieder in Deutschland einzuleben würde letzten Endes nicht weiter schwierig sein, dachte sie, vor allem hier in München, wo die Leute entweder nicht wußten, daß sie und Richard frisch verheiratet waren, oder sich nicht darum scherten; und sollte es mehr oder weniger unverhohlenen Antisemitismus geben, dann gewiß nicht unter den Leuten, mit denen sie und Richard zu tun hatten.
    Unmittelbar nachdem sie ihr Haus in Bogenhausen bezogen hatten, sagte Richard, er wolle einige Leute einladen. »Nicht nur Geschäftsleute, sondern auch ein paar alte Freunde«, sagte er fröhlich. – »In Ordnung«, stimmte Esther zu. Aber sie wußte nicht, wer diese alten Freunde sein sollten, denn sie und Richard hatten in München so gut wie keine gemeinsamen Bekannten. Es stellte sich heraus, daß Richard einige seiner alten Freunde einladen wollte und daß sie ihre Freunde einladen sollte.
    Am Tag vor der Veranstaltung rief Lotte Kiefer an. Ihr Bekannter Leopold Beckhof höchstpersönlich habe ihr die Neuigkeit erzählt. Sie gratulierte Esther zur Heirat, und das so warm und herzlich, daß Esther sie und ihren Ehemann zu der Party einlud. »Es kommen nur ein paar alte Freunde von Richard und mir, die wir seit einer Ewigkeit nicht gesehen haben – eine Art Wiedersehensfeier.« Esther sah 64
    der Party mit einemmal glücklich und frohgemut entgegen.
    Vielleicht hatte sie sich Lottes kühles Benehmen in London nur eingebildet, dachte sie. Sie hoffte es jedenfalls.
    Alle eingeladenen Gäste kamen. Sie drängten sich in dem großen Wohnzimmer, und Esther und Richard führten sie abwechselnd durch das Haus. Lotte Kiefer wollte alles über Richards Arbeit wissen und sagte, Esther und er müßten sie unbedingt in ihrer Schwabinger Wohnung zum Abendessen besuchen. »Mit diesem Haus verglichen ein bißchen studentisch«, sagte Lotte entschuldigend, »aber man schaut auf den Englischen Garten, und ich finde, es hat einen gewissen Charme.« Esther strahlte vor Dankbarkeit und sagte, sie würden mit Vergnügen kommen. Erst nach dem Büffet, als die Gäste sich mit Kaffee und Zigaretten gesetzt hatten – Richard hatte daran gedacht, englische Zigaretten mitzubringen, weil der deutsche Tabak noch immer katastrophal schmeckte –, fiel Esther auf, wie ärmlich Lotte gekleidet war. Die braune Fuchsstola um ihren Hals war an einer Stelle blankgescheuert, und ihre Krokodillederschuhe hatten Risse, wie sie nur die Zeit in gutes Leder gräbt, denn die Schuhe waren sichtlich teuer gewesen. Und die Armut war nicht nur ihrer Kleidung, sondern auch ihrem verhärmten Gesicht abzulesen. Esther starrte sie an, als traue sie

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