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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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sie mit fünfundvierzig Jahren nicht erwarten konnte, auf Männer zu wirken, wie sie es mit fünfunddreißig getan hatte oder sogar noch mit vierzig, als sie nach England gekommen war. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr hatte sie aus dem vollen gelebt, und die letzten vier Jahre in London waren neben aller Langeweile auch der Geldnot wegen besonders hart gewesen. Sie hatte um die Hüften Speck angesetzt, bekam allmählich Hängebacken und sah aus wie eine 57
    mollige Frau in mittleren Jahren; keine kosmetische Behandlung konnte die Tränensäcke unter ihren Augen ganz zum Verschwinden bringen. Ihre schöne Nase war unverändert, doch unauffällig und kein Ausgleich für alles andere. Nur ein Mann schien sich für sie zu interessieren, und das war Richard. Doch schon zu Beginn ihrer Beziehung hatte er ihr erklärt, daß eine Heirat für ihn niemals in Frage komme. Er sei zum Hagestolz geboren, sagte er, und wolle es bis ins Grab bleiben. Diese selbstsüchtige Hagestolzhaltung war in Esthers Augen für seinen Geiz verantwortlich und dafür, daß er ihr nie ein Geschenk machte außer zu Weihnachten. Doch auch Esther war nicht darauf erpicht, Richard zu heiraten. Und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn genug liebte, um ihn heiraten zu wollen.
    Richard und Esther gehörten zu den wenigen, die an jenem Tag im September 1938, an dem die Alliierten die Tschechoslowakei im Stich ließen, entsetzt waren. Erst einen Monat zuvor hatte Esther aus dem Brief einer Freundin in Deutschland erfahren, daß ihr Exgatte aus Berlin verschwunden und sein gesamter Besitz beschlagnahmt worden war. Esther hatte im Vorjahr von mehreren Freunden gehört, die verschwunden waren. Sie sagte zu Richard, sie wolle mit ihm zusammenziehen, und er war einverstanden. Esther fürchtete sich, und das Zusammenleben mit Richard linderte ihre Furcht. Und was die Nachbarn davon hielten, daß auf dem Türschild zwei Namen standen, war beiden herzlich egal. Doch Esthers Furcht hinderte sie nicht daran, sich freiwillig als Helferin bei Feuerwehr und Flugzeugfrühwarnung zu melden und im Luftkrieg um 58
    Großbritannien Seite an Seite mit den Londonern auszu-harren. Sie und Richard blieben den ganzen Krieg hindurch in London; keiner von beiden kam auf den Gedanken zu erwägen, ins Landesinnere zu ziehen, um in Sicherheit zu sein. Bei Richard handelte es sich um die Gleichgültigkeit des Fatalisten, bei Esther möglicherweise darum, daß sie gar nicht gemerkt hatte, wie sehr sie sich fürchtete. Bei Kriegsende, als Deutschland geschlagen und Esther für ihre Tapferkeit ausgezeichnet worden war, weil sie einen alten Mann aus einem brennenden Gebäude in der Nähe von St.
    Paul's gerettet hatte, merkte sie zum erstenmal, daß sie das Kriegsgeschehen mit einer Ergebenheit über sich hatte ergehen lassen, die fünf Jahre früher völlig untypisch für sie gewesen wäre. Und sie merkte, daß sie Richard mittlerweile in ähnlicher Weise akzeptierte. Sie hielt ihn nicht länger insgeheim für zweite Wahl. Sie hatte sich daran gewöhnt, seine Häßlichkeit zu lieben, seine Gleichgültigkeit, seine Zuverlässigkeit, die in Wahrheit nichts weiter war als die starre Routine des Hagestolzes.
    Die Kriegsjahre hatten sie miteinander verschweißt, und Esther konnte sich nicht mehr vorstellen, daß sie – oder sogar er – wieder allein leben könnte.
    Ihre Londoner Freunde waren großenteils Künstler, Schriftsteller und Verlagsleute – Menschen, die sich nicht darum scherten, ob sie und Richard verheiratet waren –, doch Esther begann es zu stören, ähnlich wie ein Zahn, der noch nicht weh tut, aber sicherheitshalber behandelt werden sollte. Aber jedesmal wenn sie es Richard gegenüber ansprach, verschanzte er sich hinter ihrer finanziellen Situation: Er könne sich eine Ehefrau einfach nicht leisten, 59
    sagte er. »Wieso sollten wir als Ehepaar mehr Geld ausgeben als jetzt? Ich würde ja weiterhin arbeiten gehen«, sagte Esther. Darüber dachte Richard für einen Augenblick nach.
    »Unsere Lebensweise ist dir doch nicht peinlich, Esther, oder?« Esther versicherte ihm, daß dem nicht so sei, doch ein wenig war es sehr wohl so. Und da Leute nun einmal fünfzig und älter wurden, schien es in ihren Augen nur folgerichtig zu sein, daß man für halbwegs gesicherte Verhältnisse sorgte. Das sagte sie, worauf Richard sie fassungslos anstarrte. »Du verdienst doch zwischen zwölf und dreizehn Pfund in der Woche«, sagte Esther. Sein Einkommen schwankte, denn er war

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