Die Augen der Mrs. Blynn
»Kommen Sie gelegentlich nach Mailand?«
»Leider höchstens alle fünf Jahre einmal.«
Signora Cacciaguerra gab Hélène trotzdem ihre Adresse, dann ging sie als erste hinunter. Sie wolle nicht, sagte sie, daß ihr Mann sie zusammen sähe, weil er sonst womöglich erraten könnte, daß und worüber sie mit ihr gesprochen habe.
Hélène folgte ihr ein paar Minuten später. Am Eingang zum Speisesaal traf sie André, der sie einlud, zusammen 48
mit ihm und einem Freund, der eben aus Paris eingetroffen sei, zu Mittag zu essen.
»Das heißt, falls Sie keine Angst haben, sich zu langweilen, wenn Sie zum Abendessen schon wieder mit mir vor-liebnehmen müssen«, setzte André hinzu.
Hélène nahm die Einladung an.
Am Nachmittag packte Hélène der Ordnung halber ihren Koffer und bat die Rezeption, ihre Rechnung fertigzuma-chen. Der Hoteldirektor zeigte sich überrascht, daß sie schon so bald wieder fortwollte, und Hélène sagte, sie würde wahrscheinlich erst am nächsten Tag abreisen, wolle aber die Rechnung beizeiten begleichen. Sie bezahlte einen Tag extra und schob ein stattliches Trinkgeld unter die Lampe auf ihrem Nachttisch. Für Käthe, das Zimmermädchen, legte sie hundertfünfzig Schilling in ein Hotel-kuvert. Gerts Brosche steckte sie ebenfalls in einen Umschlag, erwog, ein paar Zeilen dazu zu schreiben, und entschied sich dagegen. Sie adressierte den Umschlag lediglich an Gert von Böchlein. An ihren Mann oder ihren Sohn brauchte sie nicht zu schreiben, obwohl sie beiden ein freundschaftliches Lebewohl hätte senden können. Aber so ein Abschiedsbrief würde sie nur unnötig aufwühlen und ihrem Sohn später, wenn er erwachsen war, erneut weh tun, sofern ihm überhaupt je etwas weh tun konnte. Die einzigen, von denen sie sich hatte verabschieden wollen und denen sie auch Lebewohl gesagt hatte, waren ihre fidelen Freundinnen am Münchner Hauptbahnhof am Tag ihrer Abreise nach Alpenbach.
Um sechs Uhr verließ sie in Skianzug mit Mütze und Fäustlingen das Hotel. Zu dieser Stunde nahmen die mei-49
sten Gäste ein Bad und kleideten sich für den Abend um, und sie war froh, daß ihr in der Halle niemand begegnete.
Als sie den verschneiten Fußweg einschlug und sich an den Aufstieg machte, ging sie davon aus, daß sie den Gipfel erst bei völliger Dunkelheit erreichen würde. Sie bedauerte es, dem Hotel durch einen Todesfall Unannehmlichkeiten zu bereiten, aber der Tod war vermutlich immer unangenehm: Wenn man beispielsweise ins Wasser ging, würden viele Menschen tagelang nach dem Leichnam suchen müssen; und wenn die Leiche Tage oder Wochen später unver-hofft am Flußufer auftauchte, würde auch das lästige Sche-rereien verursachen. Immerhin würde sie nicht direkt im Hotel sterben. Sie nahm an, sie würde in einer meterhohen Schneewächte landen und dort entweder erfrieren oder er-sticken. Doch solche Vorstellungen erschreckten sie nicht länger, waren bedeutungslos geworden. Und was, wenn ich Gert auf dem Gipfel treffe und er das gleiche vorhat wie ich? dachte Hélène und lachte leise, so sicher war sie, daß er sich nichts antun würde.
Als sie sich dem Gipfel näherte, konnte sie den Weg schon nicht mehr erkennen. Mit beiden Händen zog sie sich an den kahlen, zerklüfteten Felswänden empor. Oben angekommen, zögerte sie nicht länger als zehn Sekunden.
Sie hielt nur inne, um ein paarmal tief Luft zu holen, dann machte sie einen Schritt nach vorn, stürzte kopfüber vom Felsrand und ließ sich ins Bodenlose fallen. Der Wind pfiff ihr durch die Mütze hindurch in die Ohren. Obwohl sie im Sturzflug hinabsauste, fühlte sie sich schwerelos, körper-los. Sie sah ihr ganzes Leben vorbeiziehen, von der blond-gelockten Kindheit über ihre Studienjahre, die Ehe und 50
deren allmähliches Scheitern bis zu den letzten Etappen ihres Lebens in München… aber alles ging so rasch, daß es eine einzige Panoramaaufnahme hätte sein können, ein Schnappschuß … klick! Und alles in allem, dachte sie, war das Leben gar nicht so schlecht. Das war ihr letzter Gedanke, bevor es endgültig klick! machte und finster wurde.
51
Die Heimkehrer
Für Esther und Richard Friedmann bedeutete die Heimkehr nach Deutschland 1952 eine triumphale Genugtuung, fast als wäre ihnen ein Wunder widerfahren, ähnlich den wundergleichen Schicksalsfügungen im Märchen, wenn edle und zu Unrecht vertriebene Könige in ihre alten Rechte wiedereingesetzt werden, nur daß im Fall der Friedmanns ein günstiges Geschick ihnen mehr
Weitere Kostenlose Bücher