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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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die Bar zu gehen.
    Signora Cacciaguerra wirkte ziemlich fahrig, und ihre Stirn legte sich in bange Falten. »Ach bitte, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns in Ihrem Zimmer unterhielten?«
    »Ist etwas mit Ihrem Mann?« fragte Hélène, die unwillkürlich an einen Skiunfall dachte.
    »Nein, nichts dergleichen«, antwortete die Signora und deutete zum Lift hinüber. »Könnten wir –«
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    »Ja, natürlich.« Hélène folgte ihr in den Fahrstuhl. Oben in ihrem Zimmer sagte Hélène: «Wenn Sie möchten, können wir uns etwas zu trinken heraufkommen lassen.«
    Und als Signora Cacciaguerra stumm blieb, bestellte Hélène beim Zimmerkellner ein Kirschwasser und einen Americano. »Bitte, setzen Sie sich doch, Signora«, sagte Hélène schon zum zweitenmal.
    Endlich nahm Signora Cacciaguerra auf der Sesselkante Platz. »Sie finden das vielleicht sehr merkwürdig … nein, bestimmt kommt es Ihnen merkwürdig vor, daß eine Ehefrau zu Ihnen kommt, um … Aber mein Mann …« Sie suchte nach Worten, lächelte und nahm einen neuen Anlauf. »Er benimmt sich auf einmal ganz eigenartig. Nicht…
    ich meine, er hat nicht direkt etwas gesagt, aber er sieht Sie dauernd an, und er träumt mit offenen Augen von Ihnen.
    Das müssen Sie doch auch gemerkt haben.«
    Hélène war nichts Besonderes aufgefallen, weil Signor Cacciaguerra sie nicht öfter ansah als drei oder vier andere Männer und Frauen auch – einschließlich der Signora Cacciaguerra.
    »Und er ist neuerdings auch so launenhaft – abwechselnd euphorisch und todtraurig. Dauernd starrt er aus dem Fenster. Aber nach draußen gehen mag er nicht. Das Komische daran ist, daß ich nicht eifersüchtig auf Sie bin«, sagte die Frau und lachte kurz auf. »Es mag abwegig klingen, aber ich bin gekommen, um Ihren Rat einzuholen.
    Wie wäre es zum Beispiel –«
    »Zum Beispiel?«
    »Wollen wir heute abend zusammen essen? Vielleicht 46
    würde es helfen, wenn mein Mann Ihnen näherkommen könnte. Hin und wieder spricht er nämlich von Ihnen, und es ist gerade die Art, wie er von Ihnen spricht, die ich so sonderbar finde. Daß er sich ab und zu für andere Frauen interessiert, das bin ich schon gewohnt, glauben Sie mir, aber nicht so. Sie stellt er auf ein Podest.«
    Just in dem Moment klopfte der Page, der die Getränke brachte, und Hélène war froh über die Unterbrechung. Sie nahm einen Zehnschillingschein aus ihrer Handtasche, gab ihn dem Pagen und bedankte sich.
    »Danke vielmals, gnädige Frau«, sagte der Junge, stellte das Tablett auf den Frisiertisch und ging.
    Hélène reichte Signora Cacciaguerra den Americano.
    »Hoffentlich schmeckt Ihnen so was.«
    »Sehr sogar. In Mailand trinke ich ständig amerikanische Cocktails. Cheers!«
    Hélène prostete ihr ebenfalls auf englisch zu. Ansonsten hatte Signora Cacciaguerra Italienisch gesprochen und Hélène Französisch, das ihr geläufiger war. An jenem Abend, als man nach dem Essen in großer Runde beisam-mensaß, hatten sich alle auf Französisch verständigt. »Es ist zu schön hier, um sich von Kleinigkeiten die Laune verderben zu lassen. Außerdem reise ich in ein paar Tagen ab, falls Ihnen das ein Trost ist«, erklärte Hélène fröhlich.
    »O nein, durchaus nicht. Und ich bedaure keineswegs, Sie kennengelernt zu haben.« Signora Cacciaguerra erwiderte Helenes Lächeln ebenso herzlich. »Wissen Sie, jetzt fühle ich mich schon viel besser. Aber was ist nun mit heute abend? Essen wir zusammen?«
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    »Heute abend bin ich schon mit Monsieur Lemaitre verabredet. Aber könnten wir nicht alle an einem Tisch sitzen?«
    »Nein, das wäre Monsieur Lemaitre bestimmt nicht recht«, sagte Signora Cacciaguerra liebenswürdig. »Und genausowenig wird es meinem Mann gefallen, daß Monsieur Lemaitre mit Ihnen zu Abend ißt.« Eine Erkenntnis, die sie zum Lachen reizte.
    Hélène, die während des ganzen Gesprächs stehengeblieben war, lächelte dazu. Sie würde heute überhaupt nicht zu Abend essen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß der heutige Abend ihr Abend war.
    Signora Cacciaguerra blieb noch ein paar Minuten, trank ihren Americano aus und erzählte Hélène von ihren beiden Söhnen in Mailand. Sie waren elf und dreizehn Jahre alt und sehr verschieden. Der Altere träumte von einer Zukunft als Maler, der Jüngere wollte Ingenieur werden und Wolkenkratzer bauen. Sie waren so unterschiedlich, daß sie inzwischen getrennte Zimmer beanspruchten. »Ich würde Ihnen meine Kinder gern vorstellen«, sagte sie begeistert.

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