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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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vergaß er, ein Stück Watte aus einem aufgebohrten Zahn zu entfernen, bevor er die Füllung einsetzte –, und er schlief miserabel, da er zu jeder Tages- und Nachtzeit damit rechnete, daß das Telefon klingelte und ein verzweifelter Patient sich meldete. Seine 113
    eingesunkene Körperhaltung spiegelte seinen Gemütszustand wider und bildete einen starken Kontrast zu Baldurs vornehmem Auftreten. Wenn sie zusammen die Straße entlanggingen, meinte Dr. Fenton in den Augen der Vorübergehenden lesen zu können, was sie über sie beide dachten. Er besaß nicht mehr so viel Stolz, daß es ihm etwas ausgemacht hätte. Sein einziges Anliegen bestand darin, sich um den Hund zu kümmern, so gut er es vermochte. Zum ersten Geburtstag schenkte er Baldur ein neues Kettenhalsband mit Leine, und danach bekam er ein Steak in einem vornehmen Restaurant. Dann besuchten beide ein Open-air-Konzert mit Wiener Walzern.
    Mittlerweile fürchtete Dr. Fenton die Wochenenden, weil er sich dem mißbilligenden Blick des Hundes nicht eine Minute entziehen konnte. Und mit einiger Verspätung begann er, über Theodora nachzugrübeln und sich ihr Leben mit Robert Frazier II. auszumalen. An den langen Sonntagnachmittagen trieb seine Phantasie wilde Blüten.
    Er sah Theodora, wie sie, eingehüllt in Wolken von Glück und Tabakdunst, behängt mit kostbarem Schmuck, den er ihr nie hätte kaufen können, verächtlich auf ihn herab-lächelte. Er hatte die Gestalt eines kleinen Stinktiers oder einer von Ungeziefer geplagten Ratte angenommen, die zu ihren Füßen kauerte, während Baldur höhnisch um ihn herumsprang, ihn mit der Schnauze anstupste und lachte.
    An einem trostlosen Sonntagnachmittag unternahm Dr.
    Fenton seinen zweiten Selbstmordversuch. Er dichtete das Küchenfenster mit Klebeband ab, brachte Baldur dazu, ins Schlafzimmer zu gehen, und schloß die Tür. Er verklebte die Ritzen der Küchentür und drehte sämtliche Flammen 114
    am Gasherd an. Dann setzte er sich davor, legte die Arme auf die geöffnete Backofentür und atmete tief Zug um Zug das köstlich süßliche, schwindelig machende Gas ein. Zum erstenmal seit Monaten war er glücklich.
    Dr. Fenton wachte ganz allmählich auf und fand sich von verschwommenen menschlichen Gestalten umgeben.
    Sein Kopf fühlte sich an, als würde er von einem Schraub-stock zusammengequetscht.
    »Es wird alles gut«, sagte eine Gestalt. »Wir haben Ihren Hund bellen hören. Beinahe hätte er die Tür eingerannt.
    Wirklich ein braver Hund …«
    Dr. Fenton sah Baldurs hübsches Gesicht über sich und begriff, daß er wieder in seiner alten Welt war.
    Später erfuhr er, daß Baldur die Schlafzimmertür aufgemacht hatte, zu deren Schloß es keinen Schlüssel gab, dann die Küchentür aufgerissen hatte, obwohl sie mit Klebeband versiegelt war, ihn in den Flur gezerrt und dann so lange gebellt hatte, bis Nachbarn den Hausmeister holten und mit Gewalt in die Wohnung eindrangen. Baldur wurde von sämtlichen New Yorker Zeitungen fotografiert, und Dr.
    Fenton wurde ausgiebig über ihn befragt, über seine Persönlichkeit, was er fraß, welche Kunststückchen er beherrschte und dergleichen mehr. Niemand stellte Dr.
    Fenton auch nur eine einzige Frage zu seiner Person. Am nächsten Tag lächelte Baldur von der Titelseite zweier Boulevardblätter, und im Lokalteil wurde der Hergang der Rettungsaktion in einer nachgestellten Bildsequenz ge-schildert, für die sich Baldur offenbar gnädig zur Verfü-
    gung gestellt hatte, während Dr. Fenton von den Ärzten ins Bett verfrachtet wurde. Sogar die seriöseren Zeitungen 115
    widmeten der Geschichte nebst einem Foto von Baldur zwei Spalten. Der Hund wurde als »des Menschen bester Freund« apostrophiert. Dr. Fenton dagegen wurde in einer Zeitung als »Dr. Benton« bezeichnet, in einer anderen als
    »Mr. Fenton« und in einer dritten als »Frauenarzt«.
    Noch tagelang blieben Passanten auf der Straße stehen und tätschelten Baldur, und Dr. Fenton wurde gefragt, ob es auch wirklich Baldur sei. Baldur nahm das Getätschel und die lobenden Worte mit Schwanzwedeln entgegen, doch mit der Zeit reagierte er ungehalten auf so viel Anerkennung, als wüßte er, daß sich die Aufregung allmählich legen dürfte. Dr. Fenton hatte den Eindruck, daß Baldur ihn besser denn je im Auge behielt, und er beschloß, den Gedanken an Selbstmord aufzugeben, solange Baldur bei ihm war. Er fühlte sich in die Enge getrieben, doch kaum hatte er den Entschluß gefaßt, keinen Selbstmordversuch mehr

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