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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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Tischdecke. Baldur zog ins Wohnzimmer und lag in der Nähe seines Herrn auf dem Läufer, betrachtete ihn ruhig, ohne jemals zu betteln, ohne sich in irgendeiner anderen Form zu äußern als mit seinem beredten, hoheitsvollen Blick, der Dr. Fenton trotz aller Bemühungen nach wie vor unerbittlich zu tadeln und zu verurteilen schien. Wenn Dr. Fenton ihm den Knochen von seinem Steak oder Kotelett hinhielt, nahm Baldur ihn mit der unpersönlichen, distanzierten Miene eines Fürsten an, der einen rein symbolischen Zehnten entgegennimmt.
    Dennoch hätte Dr. Fenton nicht behaupten können, daß der Hund nicht loyal, einigermaßen zutraulich und in jeder Beziehung so war, wie man es von einem braven Hund erwarten durfte. Immer donnerstags, wenn Dr. Fenton in einer Klinik arbeitete und Baldur nicht mitnehmen konnte, begrüßte dieser ihn abends um sechs an der Wohnungstür und schien sein Bedauern darüber, daß er seit dem Morgen nicht mit ihm hatte vor die Tür gehen können, mit einem Achselzucken abzutun. Doch Dr. Fenton erkannte in der gleichbleibenden Höflichkeit des Hundes, die seiner Meinung nach eine heimliche Verachtung kaschierte, das gleiche Verhalten, das er so häufig an Theodora bemerkt oder sich eingebildet hatte. Zum Beispiel hatte Theodora ihn zu später Stunde oft gedrängt, doch noch zu bleiben, was sie, wie ihm mittlerweile klar war, nur aus Höflichkeit getan hatte und nicht, weil sie seine Gesellschaft schätzte.
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    Dr. Fenton fühlte sich in seinen eigenen vier Wänden nicht mehr wohl, und aus demselben Grund hätte er sich nicht wohl gefühlt, wenn Theodora auf irgendeiner unvorstell-baren platonischen Basis mit ihm in dieser Wohnung gelebt hätte.
    Dr. Fenton saß jetzt nie mehr in Hemdsärmeln in seiner Wohnung, und im Schlafanzug erst recht nicht, auch nicht am Sonntag. Er traf sich fast nie mit Freunden, redete aber manchmal mit Baldur. Er fragte ihn, ob er bereit sei zum Spazierengehen – was Baldur mit wedelndem oder hän-gendem Schwanz beantwortete –, und erkundigte sich, was er gern zum Abendessen hätte. Baldur kannte die Bezeich-nungen für mehrere Fleischsorten, mochte einmal in der Woche Leber und votierte meistens für Hamburger. Eigentlich wäre Dr. Fenton ihn liebend gern losgeworden, aber die lebhafte Intelligenz des Hundes, die in Dr. Fentons Augen fast schon an Hellsichtigkeit grenzte, hinderte ihn daran, auch nur darüber nachzudenken. Seine Depression verstärkte sich, und er hegte finstere Selbstmordgedanken.
    Auch eines späten Abends, während er mit Baldur über die Queensboro Bridge ging, sann er darüber nach. Er ließ den Hund von der Leine und befahl ihm vorauszulaufen.
    Mit einem Satz sprang Dr. Fenton über das eiserne Geländer. Noch ein oder zwei Schritte, und er stand am Rand der Streben, die über den Fluß ragten. Da spürte er, wie er zurückgerissen wurde, fiel hin und griff dabei instinktiv nach den Metallstreben unter seinen Händen. Baldur stand über ihm, sah ihn irritiert an, wedelte aber mit dem Schwanz. Dr. Fentons düstere Stimmung war verflogen, und er setzte seinen Heimweg fort.
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    Am folgenden Wochenende las er in der Sonntagsausgabe der Times von Mrs. Theodora Wilkes' Hochzeit mit Robert Frazier II. aus Pennsylvania. Dr. Fenton hatte nie von ihm gehört, doch schon allein der Name beschwor das Bild eines gutaussehenden, kultivierten Menschen aus namhafter Familie herauf, eines Mannes mit Geld und Muße. Er stellte sich Theodora und ihren neuen Gefährten auf einer langen Hochzeitsreise vor, einer Kreuzfahrt rund um die Welt womöglich, und ihre Freunde gehörten vermutlich zur gesellschaftlichen Creme. Er machte mit Baldur einen langen Spaziergang, um auf andere Gedanken zu kommen. Im Central Park sprach ihn ein Mann an, der sich als Hundehändler ausgab und ihn fragte, ob er Baldur unter Umständen verkaufen wolle. Dr. Fenton zuckte bei diesem Ansinnen zusammen. Wenn er ihn nicht verkaufen wolle, dann werde er ihn doch sicher an der einen oder anderen Hundeschau teilnehmen lassen wollen, oder? Der Mann berichtete Dr. Fenton von einer Hundeschau in New Jersey, die in drei Wochen stattfinden sollte und bei der Baldur in der Kategorie Deutscher Schäferhund spielend den ersten Preis gewinnen könnte.
    »Sicher. Aber den anderen gegenüber wäre es höchst unfair, ihn teilnehmen zu lassen«, murmelte Dr. Fenton nervös und setzte seinen Weg fort.
    Mit seiner Praxis ging es bergab. Er leistete sich zwei üble Schnitzer – in beiden Fällen

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