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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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Erkenntnis: Er sah, wie sein ganzes Leben zu diesem Augenblick hinführte, wie all die Jahre des Zweifels, der Verzweiflung, der schweren, fruchtlosen Anstrengungen zu diesem Augenblick hinführten, in dem alle, von denen er gar nicht gewußt hatte, wie gern sie ihn hatten, ihm bewiesen, daß er alles im Überfluß besaß, was er sich nur wünschen konnte. Und diese neue Wärme um sein Herz, die Gewißheit, daß Rose ihn liebte und daß jedermann in der Stadt ihn liebte – was sonst als das hatte er sein Leben lang gesucht? Was mehr konnte man sich ersehnen? Winnie machte sich keine Sorgen mehr. Winnie kam sich – er schämte sich fast, den Gedanken zu Ende zu denken – erfolgreich vor.
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    Des Menschen bester Freund

    Jeden Morgen pünktlich um halb acht verließ Dr. Edmund Fenton seine Wohnung in den East Sixties und ging mit seinem deutschen Schäferhund Baldur in Richtung Central Park. Nach einem etwa halbstündigen flotten Spaziergang kehrten die beiden nach Hause zurück, um zu frühstücken
    – für Baldur gab es, wie im Hundebuch empfohlen, warme Milch und trockenen Toast, für Dr. Fenton Orangensaft, trockenen Toast und Kaffee. Um neun Uhr fanden sich beide in Dr. Fentons Praxis in der Lexington Avenue ein, wo Baldur den ganzen Vormittag brav unter dem Schreibtisch saß und geduldig auf die Mittagspause um eins wartete, in der sie zum Lunch nach Hause gingen.
    Um sechs Uhr und dann noch einmal vor dem Schlafengehen führte Dr. Fenton Baldur entweder im Central Park oder auf der Madison Avenue spazieren. Er hielt sich haar-genau an die in seinem Hundebuch enthaltenen Anweisungen für die Aufzucht von Hunden, und dank seiner sorgfältigen Pflege wuchs Baldur zu einem kräftigen und schönen Hund heran. Über seinen Rücken zog sich ein tiefschwarzer Streifen, der erst in Braun und an Bauch und Beinen dann in ein helles Lederbeige überging. Seine Manieren waren untadelig. Er bellte nie und zerrte nie an der Leine. Das Beißen erledigte er auf dem ledernen Spiel-zeugknochen, den Dr. Fenton zu diesem Zweck ange-schafft hatte. Wenn Baldur im Lift hinten stand, wartete er stets, bis alle Leute ausgestiegen waren, ehe er sich in Be-106
    wegung setzte. Er benahm sich in der Tat höflicher als die meisten Menschen. Einmal, als Dr. Fenton eine Party gegeben hatte und einige Gäste bis in die frühen Morgen-stunden geblieben waren, womit sie Baldur nicht nur um seinen abendlichen Auslauf, sondern auch um den Schlaf brachten, geleitete der Hund die Gäste schließlich mit größerer Liebenswürdigkeit zur Tür als Dr. Fenton, von dessen Gastfreundschaft zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel zu spüren war. Einer der Gäste, Bill Kirstein, machte sogar eine entsprechende Bemerkung.
    »Also gut, Ed, wir gehen ja schon«, sagte er. »Du brauchst uns nicht hinauszuwerfen. Könnte nicht schaden, wenn du von deinem Hund da ein bißchen Manieren lernen würdest.«
    Diese Bemerkung hatte Dr. Fenton gekränkt, zumal sie ihn an einem ohnehin wunden Punkt traf – seinem Stolz.
    Und sie hatte ihn um so härter getroffen, als ihm in der vergangenen Woche der gleiche Gedanke durch den Kopf gegangen war: daß Baldur ihn mit seinem tadellosen Betragen beschämte. Beim Metzger beispielsweise wartete Baldur gelassener, als Dr. Fenton es vermochte, vor allem wenn er mehrere geschwätzige Hausfrauen vor sich hatte.
    Einmal hatte Dr. Fenton versucht, seine Bestellung dazwi-schenzumogeln, obwohl er noch nicht an der Reihe war; eine Frau hatte ihn zur Rede gestellt, worauf er sich aus dem Metzgerladen geschlichen hatte und sich vorgekommen war wie ein Verbrecher.
    Rückblickend hatte Dr. Fenton den Eindruck, daß seine Niedergeschlagenheit auf Bill Kirsteins Bemerkung zu-rückzuführen war. Von dem Tag an hatte er keine Freude 107
    mehr an Baldur und freute sich auch über sonst nichts mehr. Mit der Zeit fühlte er sich dem Hund unterlegen. Er gab sich Mühe, seine Manieren zu verbessern, zwang sich, im Lift ebenfalls zu warten, und zog öfter den Hut, hatte jedoch nie das Gefühl, es in puncto Höflichkeit mit Baldur aufnehmen zu können; sie war dem Hund offenbar ange-boren, da Dr. Fenton keinerlei Zeit darauf verwendet hatte, ihm gute Manieren beizubringen. Auch Baldurs Gesicht strahlte eine Würde aus und eine Intelligenz, die den Eindruck erweckte, als betrachtete er die Menschen auf der Straße – und selbst seinen Herrn – hinter seiner liebenswürdigen Fassade mit fundierter und unbestechlicher Klarsicht. Dr. Fenton beschlich

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