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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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Mann mit sanftem Nachdruck aus dem Haus ihrer Mutter hinauskomplimentieren müssen, und der hatte Robert im Gehen so süffisant angegrinst, 211
    als wolle er sagen: Reine Zeitverschwendung, was du da machst, mein Junge.
    Robert und Lee waren nach dem Essen wieder zu ihr gegangen, ins Haus ihrer Mutter (die Mutter war geschieden), und Lee hatte ihm ihre Zeichnungen gezeigt, ein paar Gemälde, die nicht so gut waren wie die Zeichnungen, und ihre ersten fotografischen Arbeiten. Robert war beeindruckt. Sie hatte viele Porträtfotos von Bekannten aufgenommen, junge und alte Gesichter. Sie war phantasie-begabt und voller Energie. Letzteres zeigte sich schon rein äußerlich, in ihrem athletischen Körperbau (Lee war weder gertenschlank noch besonders kräftig, sondern irgendwas dazwischen) und in der Anmut ihrer Bewegungen. Vor allem aber spürte man die Energie in Lees Begeisterung für ihre Arbeit.
    Gegen Mitternacht hatte Robert nicht länger an sich halten können. »Ich liebe dich – weißt du das?« Lee sah aus, als hätte es ihr vor Überraschung die Sprache ver-schlagen (wieso, hatte Robert gedacht, wo doch bestimmt ein halbes Dutzend Männer in sie verliebt waren), und dann war sie damit fortgefahren, ihre Fotografien wieder in die beschrifteten Mappen und Ordner einzusortieren. Er hatte nicht versucht, ihre Hand zu halten oder sie zu küssen.
    Und dann Funkstille – zwei Wochen, einen Monat lang.
    Sie könne nicht ausgehen, sie habe zuviel zu tun, sagte sie, wann immer er anrief. Und Robert erinnerte sich mit einer Mischung aus Unmut und Dankbarkeit an den Rat seines Freundes: »Halt dich zurück, Bob, dann kommt sie von ganz allein.« Robert war nicht der Typ für solche taktische 212
    Spielchen, aber er hatte sich alle Mühe gegeben, und es latte geklappt, Lee war mit ihm ausgegangen, sie hatte sogar »ja« gesagt, als er ihr einen Heiratsantrag machte. Da hatten sie schon mehrmals miteinander geschlafen, in seinem Atelier. Robert war verrückt nach ihr. Ihm war, als sei er einer Göttin begegnet. Der Vergleich schien ihm nicht besonders glücklich, aber er wußte nicht, woran er sie sonst hätte messen können, denn ein Mädchen wie sie gab es auf der ganzen Welt nicht noch einmal.
    Der Rat von damals. Robert steckte sich eine seiner letzten fünf Zigaretten an. Beim Stichwort Rat fielen ihm seine Eltern in New York ein. Sie hatten ihn gestern angerufen, und er hatte mit beiden sprechen dürfen. »Ist es wahr, Bobbie?« hatte seine Mutter gefragt, in einem Ton, der Robert noch in der Erinnerung ins Herz schnitt. »Wir können es einfach nicht glauben.« Die Stimme seines Vaters klang schleppend und wie erloschen: »Wir dachten, es muß eine Verwechslung sein – von Namen oder Person…«
    Nein, es sei keine Verwechslung, hatte Robert ihm geantwortet. Ja, er habe es getan. Aber wie konnte er sich am Telefon erklären? Und bei aller Wertschätzung und Liebe zu seinen Eltern – kam es wirklich noch auf eine Erklärung an? Selbst wenn er alles für sie aufschrieb, würden sie es je verstehen? »Mein Leben ist zu Ende«, hatte Robert am Schluß gesagt. Da hatte ihm der Wärter schon gewinkt (obwohl seine Eltern das Gespräch bezahlten), und Robert hatte zu seinem Vater gesagt, er müsse jetzt auflegen.
    Falls er darüber schriebe – Robert ging in seiner Zelle auf und ab, nicht mehr im mindesten irritiert von der Enge des Raums oder der verriegelten Tür –, dann würde er an-213
    führen, daß Lee eine andere geworden sei. Das war der springende Punkt, und Robert hatte es schon lange gewußt, seit fast zwei Jahren. Falls er je über Lee und sich schriebe, dann müßte er das von Anfang an und mit allem
    Nachdruck betonen. Das hatte den Ausschlag gegeben, das hatte er nicht ertragen oder akzeptieren können, wie immer man es ausdrücken wollte. Seine Schuld. Gewiß. Lee hatte das Recht, sich zu ändern oder vielleicht auch nur zu sich selbst zu finden.
    Das Baby war noch kein Jahr alt, als Robert sie gefragt hatte, ob sie sich scheiden lassen wolle.
    »Aber warum?« hatte Lee zurückgefragt. »Was ist los, Bob? Bist du denn so unglücklich?«
    Sie hatten seit einem Monat oder länger nicht mehr miteinander geschlafen. Robert konnte nicht, und Lee ging so in ihrer Mutterrolle auf, daß sie es vielleicht nicht einmal gemerkt hatte. Dabei waren der Geschlechtsakt oder die Lust am Sex gar nicht das Wichtigste, ja, nicht einmal der Verzicht darauf spielte eine so große Rolle, sondern der Umstand, daß die

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