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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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Mutterschaft – welch pathetischer Ausdruck! – und der ganze Zirkus um den Haushalt aus Lee einen anderen Menschen gemacht hatten. Erste Anzeichen dafür hatte er schon zu Beginn ihrer Ehe entdeckt. Nach und nach gab sie das Fotografieren auf, und die Ausrüstung in ihrer Dunkelkammer war bereits vor Melindas Geburt verstaubt, erinnerte sich Robert. Sie hatten eine Hypothek aufgenommen und ein hübsches Haus bezogen, nicht zu groß und nicht zu klein, ein Haus am Rande der Stadt, in der Robert sein Atelier angemietet hatte. Dann mußten sie sich um die Einrichtung kümmern –Möbel, Vorhänge, 214
    Herd und Kühlschrank –, aber dabei ließ Lee es nicht bewenden. Sie wußte geschickt mit der Nähmaschine umzugehen, und als nächstes schneiderte sie Schonbezüge für Sofa und Sessel im Wohnzimmer. Dann war sie schwanger geworden. Wogegen natürlich nichts einzuwen-den war, und Robert hatte sich genauso gefreut wie sie.
    Sonntags saßen sie bei ihrer Mutter, was ein bißchen langweilig war, aber erträglich, manchmal sogar gemütlich und wohltuend.
    Robert blieb vor dem nicht eben großen Wandspiegel über seinem Waschbecken stehen. Sein Spiegelbild runzelte die Stirn. Robert sah gleich wieder weg und rieb sich unwirsch das Kinn. Er war an keiner Selbst-betrachtung interessiert. Rasiert hatte er sich heute morgen aber schauderhaft. Wo war er da nur mit seinen Gedanken gewesen? Der Zauber hat sich einfach verflüchtigt, dachte Robert. Würde er einen Satz wie diesen verwenden, falls er über sich und Lee schrieb?
    Robert war plötzlich verunsichert. Wie konnte man überhaupt etwas beschreiben, was einem selber noch gar nicht klar war? Wie hätte irgend jemand in Worte oder Sätze fassen können, wie sehr er Lee einmal geliebt hatte?
    Robert mußte an die Plumpheit gewisser Schlagertexte denken … Mir schwindelt, wenn ich dich nur anseh …In deinen Augen möcht' ich ertrinken … Die Wege, die wir einst zu zweit gegangen … Lee hatte manchmal ganz gern nebenbei Schlager gehört, wenn sie nähte, das Kind wickelte oder badete. Wenn sie doch nur aufgehört hätte, sich mit solchem Kleinkram abzugeben, wenn sie es ihm überlassen hätte, das Baby zu wickeln (er konnte das), 215
    wenn sie alles liegen- und stehengelassen und sich endlich wieder ihrer eigentlichen Arbeit gewidmet hätte!
    Robert war schon wieder dabei, sich zu kasteien. Was für ein Unsinn! Lee war tot, und nichts konnte sie mehr le-bendig machen. Wozu also sich den Kopf zermartern, das Geschehene analysieren?
    Für kurze Zeit fand er in die Gegenwart zurück. Morgen würden seine Eltern ihn besuchen kommen. Lees Mutter wollte ihn offenbar nicht sehen und war mit Melinda zu einer Schwester irgendwo in Illinois gefahren. Oder sie würde vielmehr dorthin reisen, gleich nach der Beerdigung.
    Die Beerdigung war heute. Robert erschrak nur ganz leicht, als ihm das einfiel. Den reflexhaften Blick auf seine Armbanduhr unterdrückte er. Er wußte auch so, daß es noch nicht zwölf war, denn der Wärter hatte ihm das Mittagessen noch nicht gebracht. Begräbnisse fanden immer vormittags statt, oder?
    Dann hatte er wieder das Gefühl, er könne selbst nicht begreifen, was er getan hatte. Und das war fast so beruhigend, als hätte er eine Tablette genommen. Daß es mit seinem Leben und seinem Werk und mit allem, was er im Leben hatte erreichen wollen, aus und vorbei war, begriff er sehr wohl. Er hätte genausogut tot sein können – wie Lee.
    Aber sie würden ihn nicht töten, nur aburteilen und ein-sperren. Was schlimmer war. Den Gedanken daran verschob er auf später. Robert preßte die Zunge gegen seinen linken Augenzahn. Vor langer Zeit, mit vierzehn oder fünfzehn, hatte er sich an diesem Zahn beim Football-spielen eine Ecke ausgeschlagen. Kleine, weißgetünchte Häuser tauchten vor seinem inneren Auge auf, dahinter ein 216
    blaues Meer. Mit zwanzig war Robert in Griechenland gewesen und hatte als Rucksacktourist am Strand und in Kiefernwäldern geschlafen und Land und Leute kennengelernt. Und er hatte davon geträumt, eines Tages genug Geld zu haben, um sich ein Haus auf einer griechischen Insel kaufen zu können. Wenigstens eine Hälfte des Jahres wollte er mit Lee dort leben und die restliche Zeit in den Staaten verbringen. Er hatte Griechenland und seinen Traum vom eigenen Haus dort drüben nie vergessen. Ab und zu hatten sie darüber gesprochen, er und Lee. Auch über griechische Musik.
    Lees Musik. Es waren nicht immer nur Schlager, was Lee im Radio

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