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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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weder bedrohlich noch besonders gut gesichert, es war einfach ein Gefängnis.
    Ein anderer Mann – der Gedanke ließ Robert nicht los.
    Es hatte keinen anderen gegeben. Eigentlich komisch, wo Lee doch so umschwärmt gewesen war, als Robert sie kennenlernte.
    Wieder in seiner Zelle, beschäftigte ihn das noch immer, Lees kolossale Beliebtheit von damals. Sie war zwanzig gewesen und Studentin an der Chicagoer Kunsthochschule, als Robert sie kennenlernte. Er hatte sich im Reinecker Institut nach einer Teilzeitstelle erkundigt; zwei, drei Vormittage die Woche wollte er Bildhauerei unterrichten. Er besaß Referenzen vom renommierten Verband der New Yorker Kunststudenten und von einer Akademie in Brooklyn, die nicht so bekannt war, ihn aber ausgezeichnet hatte, beglaubigt durch ein Zertifikat und ein Foto der Arbeit, die den ersten Preis gewonnen hatte. Doch am Reinecker Institut suchte man einen Dozenten für fünf Vormittage wöchentlich, und Robert hatte sich ein paar Tage Bedenkzeit erbeten. Fünfmal die Woche von neun bis zwölf! Doch, sie hätten Robert gern genommen und fanden nichts dabei, daß er sich einen solchen Schritt reiflich überlegen wollte. Robert hatte das Direktionsbüro verlassen, und auf der kurzen Treppe hinunter zur Eingangshalle war ihm Lee entgegengekommen.
    Es war keine erste Begegnung im üblichen Sinne gewe-209
    sen, schon weil Lee von zwei jungen Männern flankiert war, und in Roberts Erinnerung hatten alle drei gleichzeitig geredet, aber für einen kurzen Moment hatten seine und Lees Blicke sich getroffen. Robert sah die Szene immer noch so deutlich vor sich, als gäbe es ein Farbfoto davon, das er ständig bei sich trüge. Lee war blond, nicht sehr groß, mit blauen Augen. An jenem ersten Tag trug sie eine beige Pluderhose und ein hellblaues Oberteil.
    Robert hatte kehrtgemacht und war ihr gefolgt. Sie hatte ein weiches, ovales Gesicht, die hohe, runde Stirn war stark gewölbt. Den Ausschlag aber gaben ihre Augen –
    intelligent, abwägend, kühl. Wer wäre diesen Augen nicht gefolgt, dachte Robert. Als er hinter dem Trio über den Gang geschlendert war, hatte Lee sich einmal nach ihm umgesehen. Offenbar spürte sie, daß er ihr nachging. Die beiden Jünglinge dagegen hatten nur Augen für Lee gehabt, erinnerte sich Robert. Das sollte er später noch oft erleben. Aber Lee war stehengeblieben, hatte sich umge-dreht und ihn angesehen.
    Robert hatte wie in Trance »Hallo« gesagt. Und waren die beiden Begleiter von Lee nicht einen Schritt zurückge-wichen, auch sie ganz benommen angesichts dieser Liebe auf den ersten Blick? Robert wußte es nicht mehr genau. Er hatte sich irgendeine Frage abgerungen, denn er wollte sie als Modell, ganz abgesehen davon, daß er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. »Studieren Sie hier?« Vielleicht etwas in dem Sinne. Lee jedenfalls hatte gesagt, sie habe die Malerei aufgegeben, wolle irgendwo anders hin und auf eine Fotoschule wechseln. Wie der Blitz hatte Robert sein kleines Skizzenbuch aus der Gesäßtasche gezogen und 210
    einen Bleistift, hatte sich Lees Namen und Adresse notiert und ihr die seine gegeben. Sie hatte eine Telefonnummer.
    Sie wohnte bei ihrer Mutter in Evanston.
    Er hatte ihr gefallen, das war die Hauptsache – gut genug, um ihm Namen und Anschrift zu geben. Und auf einmal war sie sogar mit ihm gegangen, zurück über den langen, cremeweißen Korridor mit den geschlossenen Türen zu beiden Seiten und den mit Anschlägen und Plakaten be-pflasterten Wänden – und die beiden jungen Männer waren verschwunden oder vielleicht auch nur verdutzt hinter ihnen im Flur stehengeblieben.
    Und dann war es irgendwann schiefgegangen.
    Robert saß inzwischen auf seiner Pritsche, als er das dachte. Irgendwas war schiefgegangen. Doch in seinen Gedanken verquickten sich zwei Phasen: die Kennenlern-zeit und die letzten paar Wochen. Dazwischen aber lagen drei Jahre.
    Der Anfang war ziemlich lausig gewesen für Robert, er wurde nicht schlau aus Lee, außer daß er den Eindruck hatte, sie fürchte sich vor ihm. Sie weigerte sich, mit ihm auszugehen, schrieb ihm ein doppelsinniges Briefchen: Wollte sie ihn wiedersehen, ja oder nein? Robert wohnte knapp dreißig Meilen außerhalb von Evanston. Einer der beiden Jünglinge, in deren Begleitung er Lee zum erstenmal gesehen hatte, stellte ihr immer noch nach und schien nicht gewillt, das Feld zu räumen. Robert hatte das gleich bei seinem ersten Rendezvous mit Lee zu spüren bekommen. Sie hatte den jungen

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