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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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oder auf Platten hörte. Merkwürdigerweise hatte sie eine Vorliebe für Mahler gehabt. Dessen Musik Robert manchmal bedrückend, furchteinflößend und bisweilen unergründlich fand; gleichwohl gab ihm jetzt ausgerechnet die Erinnerung an Mahlers Sechste Halt. Eines Nachmittags hatte er, Lee betreffend, bei Mahlers Sechster eine wichtige Entscheidung gefällt. Er arbeitete damals gerade am Tonmodell einer Skulptur, die er Weibliche Träume nannte, die indes keine Liegende darstellte, sondern eine kniende Frau mit fast schlafwandlerisch erhobe-nen Armen. Er war zu Lee gegangen, um seinen Einfall mit ihr zu besprechen.
    Und was hatte sie gemacht? Sie stand auf einem Reso-palschemel und legte die Küchenschubladen und -regale mit Schrankpapier aus. Robert schlug vor, sie solle sich von ihm scheiden lassen und Tony heiraten, den tischlernden Architekten, der ledig war, ungefähr acht Meilen entfernt wohnte und der das Regal montiert hatte, 217
    an dem Lee gerade herumbastelte.
    »Tony?«
    Robert hörte noch die Verwunderung in ihrer Stimme.
    »Er ist verliebt in dich«, hatte Robert gesagt. »Das mußt du doch gemerkt haben. Er ist nur zu gut erzogen, um dir Avancen zu machen.«
    »Bob, hast du den Verstand verloren?«
    Robert erinnerte sich, wie sie ihn dabei angesehen hatte, mit dem gleichen offenen und klaren Blick wie früher, aber wie sehr hatte sich das Gemüt oder der Verstand hinter diesen Augen inzwischen verändert!
    Der Wandel, den sie durchgemacht hatte, beeinträchtigte seine Arbeit, jedenfalls die Werke, bei denen Lee ihm Modell stand. Er konnte sie nicht mehr so sehen wie früher, denn sie war nicht mehr dieselbe. Die fast lebensgroßen Aktstudien von ihr, mittlerweile einige Jahre alt und mit Reißnägeln an den Wänden seines Arbeitszimmers befestigt, schienen ihn zu verhöhnen. Es war, als sagten sie: Das schaffst du nicht noch mal. Diese Zeichnungen lebten, sie waren mitreißend, sogar genial. Und wessen Genie drückte sich darin aus, seines oder das von Lee?
    Robert war das gleich, er war nicht eitel, und soweit es nach ihm ging, hatten sie beide Anteil daran. Resigniert hatte Robert sich anderen Themen zugewandt, hatte im Bedarfsfall andere Modelle gewählt, hatte mal abstrakt gearbeitet, mal nach der Natur. Lee war eine x-beliebige Frau geworden, alltäglich hübsch, aber ebenso wenig inspiriert wie inspirierend. Robert hatte in Chicago einen Lehrauftrag für nur drei Vormittage die Woche ausgehandelt. Sie hätten 218
    sich einen Babysitter leisten können und ein-, zweimal die Woche eine Putzfrau, aber Lee schien die Hausarbeit Spaß zu machen, und sie sagte, sie wolle keine Fremden im Haus.
    Wenn Lee sich also langsam zum Klischee der Frau von nebenan entwickelte, dann war Tony Wagener der geborene Mann von nebenan (ehemals der nette Junge von nebenan), eine glänzende Partie für jedes Durchschnitts-mädchen. Er war fünfundzwanzig, gesund, liebenswürdig, sah gut aus und er verschlang Lee mit den Augen. War es da verwunderlich, daß Robert auf diese vermeintlich glückliche Lösung seines Dilemmas verfallen war? Robert hatte gedacht, es könnte klappen. Er liebte Lee immer noch, auch körperlich, ja, aber die Enttäuschung… War er am Ende nur einer Illusion aufgesessen? Nein, denn als er sie kennenlernte und noch zu Anfang ihrer Ehe war Lee so gewesen, wie er sie in Erinnerung hatte. Seine Zeichnungen bewiesen es! Und seine drei Plastiken von ihr, zwei kleine und eine in Lebensgröße! Die waren gut, wirklich gut!
    Darum also Tony.
    »Magst du Tony denn nicht?« hatte Robert bei anderer Gelegenheit gefragt.
    »Ob ich ihn mag? Ich mache mir keine Gedanken über ihn. Warum sollte ich? Er bringt uns das Holz, das er nicht braucht, für unseren Kamin – weiter nichts.« Und sie hatte die Achseln gezuckt.
    »Ihr würdet vielleicht besser zusammenpassen. Du wärest vielleicht glücklicher. Tony war's bestimmt.«
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    Lee hatte ihn noch immer nicht verstanden. »Ich will Tony nicht!« Und was hatte sie noch gesagt? Hatte sie ihn gefragt, ob er unglücklich sei mit ihr, ob er sie nicht mehr liebe? Was hätte er darauf wohl geantwortet?
    Robert hatte mit dem Gedanken gespielt fortzugehen, Lee und das Baby einfach sitzenzulassen. Er liebte das Kind, das er geradezu ergriffen als sein und Lees gemeinsames Werk bestaunte, und trotzdem war ihm der Gedanke zu verschwinden immer noch leichter gefallen als der an…
    etwas Schlimmeres. Von diesem Schlimmeren hatte Robert damals noch keine klare

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