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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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Mutter.
    »Genau das, was die euch erzählt haben«, antwortete Robert. »Es ist die Wahrheit.«
    »Wen meinst du mit die?« fragte sein Vater.
    »Na, die Polizei. Ich habe die Polizei gerufen«, sagte Robert.
    »Das wissen wir.« Seine Mutter nickte. »Aber was ist bei euch passiert?«
    »Nichts.« Beinahe hätte er hinzugefügt, er müsse wohl für einen Moment ausgerastet sein. Aber das stimmte nicht, und er schwieg.
    »Ihr habt gestritten, ja? Du hattest was getrunken?«
    fragte sein Vater. »Du kannst uns die Wahrheit sagen, Bob.
    Auch wenn wir mächtig unter Schock stehen.« Sein Vater rang nach Worten. Er wechselte einen Blick mit Roberts Mutter, dann wandte er sich wieder seinem Sohn zu. Ruhig und eindringlich sagte er: »Das ging doch nicht von dir aus, Bob. Wir wissen, daß du Lee vergöttert hast. …
    Kannst du dich uns denn nicht anvertrauen?«
    »War vielleicht ein anderer Mann im Spiel?« fragte seine Mutter. »Wir haben uns da so unsere Gedanken gemacht… Dieser Tony, den du in deinen Briefen erwähnt hast…«
    »Nein, nein!« Robert schüttelte den Kopf. »Tony ist ein sehr feiner Mensch.«
    »So, ein feiner Mensch«, wiederholte sein Vater nachsichtig. Er hoffte offenbar trotzdem, das Richtige getroffen zu haben.
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    »Nein, Tony hat nichts damit zu tun«, sagte Robert.
    Seine Mutter fragte behutsam: »Was hat Lee dir denn getan?«
    »Nichts«, antwortete Robert. »Sie hat sich nur verändert.«
    »Inwiefern?« fragte sein Vater.
    »Sie war nicht mehr die Frau, die ich geheiratet hatte.
    Getan hat sie gar nichts. Vielleicht hat sie ja auch nur ihr wahres Ich gefunden. Wieso nicht?« Er versuchte, sich halbwegs vernünftig auszudrücken. Aber das, worum es hier ging, schien sich jeglicher Vernunft zu widersetzen, paßte in kein logisches System. Hinzu kam, daß Robert seinen Eltern nie besonders nahegestanden, nie mit ihnen über sein Gefühlsleben gesprochen hatte, schon gar nicht über seine Schwärmereien, die ersten Jugendlieben. Seinen Wunsch, auf die Kunstakademie zu gehen, hatten sie wohl-wollend unterstützt. Aber Robert wußte, daß sein Vater eine künstlerische Laufbahn als Beruf nicht wirklich ernst genommen hatte; für ihn waren das brotlose Mätzchen gewesen, die einen Mann nicht richtig forderten. Doch jetzt, da er Künstler war, hielten die Eltern ihn wahrscheinlich für sensibler als andere Menschen, weshalb ihnen seine Tat erst recht unbegreiflich erscheinen mußte.
    »Inwiefern hat sie sich verändert?« wiederholte sein Vater. »Hat sie dich vielleicht vernachlässigt, sich zu sehr um das Kind gekümmert? So was soll vorkommen, ich hab davon gehört, aber…«
    »Daran lag es nicht.« Robert verlor auf einmal die Geduld. Er wollte dieses sinnlose Gespräch beenden. »Ich 227
    hatte völlig überzogene Vorstellungen«, sagte Robert, »und wozu sie mich auch verurteilen werden, ich hab's verdient.«
    Die Hand seiner Mutter zitterte, als sie in ihrer Tasche nach einem Papiertaschentuch kramte, aber sie weinte nicht, sondern schneuzte sich nur kräftig. »Bobbie, wir haben mit einem Anwalt telefoniert, der sich mit den Geset-zen dieses Staates auskennt, und heute nachmittag haben wir einen Termin mit ihm. Er sagt, falls ihr über irgend etwas gestritten habt, falls du wütend warst wegen irgendwas, dann würde dir das helfen, wenn –«
    »Das lehne ich ab«, unterbrach Robert sie. »Weil es nicht stimmt.«
    Seine Eltern wechselten einen Blick, dann sagte sein Vater ruhig: »Wir kommen wieder, wenn wir mit dem Anwalt gesprochen haben. Wann ist der Termin, Mary?«
    »Zwischen vier und halb fünf, hat er gesagt.«
    »Er kommt zu uns ins Hotel, und morgen vormittag möchte er sich gern auch mit dir unterhalten. Er heißt McIver. Ein fähiger Mann, soviel ich gehört habe.«
    Robert interessierte das Ganze noch weniger, als ihn der Fortgang eines Theaterstücks auf einer fernen Bühne berührt hätte. Rechtsanwälte, Gesetze, abstrakte Wendun-gen, abstrakter noch als sein und Lees Schicksal – das zu begreifen Robert schon schwer genug fiel.
    Seine Eltern erhoben sich. Robert dankte ihnen. Als sie gemeinsam auf den Gang hinaustraten, stand ein Wärter bereit, um Robert in seine Zelle zurückzuführen. Seine Mutter drückte Robert die Hand. Hinterher sah der Wärter 228
    sich seine Hand an, als wolle er kontrollieren, ob seine Mutter ihm etwas zugesteckt hätte.
    Bevor der Wärter ihn einschloß, bat Robert um Papier und Schreibgerät. Der Wärter brachte ihm drei Blatt liniertes

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