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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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breit, die Robert als lähmend empfand, so als ob etwas mit Gewalt zu Ende ginge, wie ein Zug, der an Fahrt verliert, 231
    weil der Lokführer das Tempo gedrosselt hat. Sie waren in die Küche gegangen. Melinda, Symbol der Zukunft, schlief ausnahmsweise tief und fest. Und er? Hatte sein inneres Auge ihm die Kunststudentin Lee aus Chicago vorgegau-kelt, während er zusah, wie seine Frau am Herd hantierte?
    War ihm eine ihrer bezaubernden Kapricen, wie: »Ist mir ganz gleich, ob ich dich wiedersehe oder nicht«, aus vor-ehelicher Zeit wieder eingefallen? Wie auch immer, jetzt war jegliche Erinnerung ausgelöscht. Er hatte sich das Nudelholz gepackt, noch mehlbestäubt von Lees rührigen Händen, und das war's gewesen.
    Robert stand auf und ging in der Zelle umher. Als er wieder an den Tisch trat, griff er nach der Zigaretten-schachtel, zog die Hand aber wieder zurück, so in Gedanken war er. Lee tot, das Kind bei Lees Mutter, tot auch er. Irgendwie war das alles ganz unwirklich. Er hatte weder von Lees Mutter gehört noch von Fred Muldaven (sie waren erst seit kurzem befreundet, und Robert nahm an, daß Fred sich jetzt vor ihm fürchtete), nur von seinen Eltern, die ihn besuchen kamen, weil Blutsbande sie zusammenhielten wie ein Sternbild, das selbdritt durchs All schwebt. Und um es eine Idee konkreter zu fassen (auch wenn die Sache an sich nicht wichtig war), so würde Robert die nächsten fünfzehn Jahre (günstigstenfalls) im Gefängnis verbringen, würde, wenn überhaupt, in der künstlerischen Abteilung arbeiten, auf Befehl aufstehen und zu Bett gehen, Tag für Tag von einem vergitterten Fenster und einer verriegelten Tür an Lee erinnert und daran, wie sie einmal gewesen war, was noch schlimmer sein würde.
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    Er schrieb noch einen Satz: Es ist ein Jammer, daß ich sie einmal so sehr geliebt habe, ich glaube wirklich, das war an allem schuld.
    Dann zündete er sich doch eine Zigarette an und betrachtete die graue und ziemlich unebene Wand gegenüber von seiner Pritsche. Und Melinda? Sollte er noch einen Satz an dieses junge Geschöpf richten, von dessen Wesen er nicht die leiseste Ahnung hatte? Das heißt, etwas wußte er natürlich doch: Sie schien von Natur aus ein fröhliches Kind zu sein, aber das konnte sich ändern, wenn sie erst einmal zwölf, dreizehn wurde.
    Er beschloß, auf jegliche Botschaft an Melinda zu verzichten. Sie war in guten Händen. Sie würde heranwach-sen, und man würde sie dazu erziehen, ihn zu hassen. Sie würde all die hübschen, die wunderschönen Fotos von ihrer Mutter anschauen und ihn hassen. Und seine Plastiken von Lee? Ob ihre Großmutter die entfernen, sie zertrümmern lassen würde?
    Robert saß ein paar Minuten auf der Pritsche und rauchte seine Zigarette zu Ende. Die Kippe drückte er in dem Blechaschenbecher auf seinem Tisch aus. Dann hob er beiläufig die linke Hand und schaute auf seine Armbanduhr: 16.37.
    Robert ging neben seiner Pritsche in die Hocke wie ein Läufer am Start, den Blick fest auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Dann nahm er seine ganze Kraft zusammen und rannte los. Mit all der Kraft, die er je in seine Arbeit gesteckt hatte, und mit der Blitzvision einer Plastik von Lee – besser als alle, die ihm je gelungen waren –
    knallte sein Kopf gegen die Wand.
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    Das mürrische Taubenpaar

    Sie wohnten am Trafalgar Square, zwei Tauben, die wir unterscheidungshalber Maud und Claud nennen wollen, obwohl sie selbst keine Namen füreinander hatten. Sie hatten sich einfach vor zwei oder drei Jahren als Männchen und Weibchen zusammengetan und waren einander leidlich treu, auch wenn sie sich im Grunde ihrer kleinen Tau-benherzen verabscheuten. Tagsüber waren sie damit beschäftigt, Körner und Erdnüsse aufzupicken, die endlose Touristenscharen, aber auch viele Londoner von Straßen-händlern kauften und für sie ausstreuten. Pick-pick, den ganzen Tag, inmitten Hunderter von Artgenossen, die gleich Maud und Claud das Fliegen fast verlernt hatten, weil es kaum noch vonnöten war. Oft wurde Maud, einge-keilt in ein wippendes, nickendes Taubenheer, von Claud getrennt, aber bei Einbruch der Dunkelheit fanden sie doch immer wieder zusammen und kehrten heim zu einer Nische auf der Rückseite einer steinernen Brüstung unweit der National Gallery. Gurr! seufzten sie dann und hievten ihren vollgestopften Kröpf den knappen Meter zu ihrer Wohnstatt empor.
    Oben angekommen, tat Maud mit unliebenswürdigen Kehllauten ihren Groll und ihre Verachtung kund. Sie und

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