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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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Papier (Robert mochte kein liniertes Papier) und einen Kugelschreiber. Erst als er sich an den kleinen Tisch setzte, spürte er das Zigarettenpäckchen in seiner Ge-säßtasche. Robert erinnerte sich, wie seine Mutter es aus der Handtasche gezogen und gesagt hatte: Wenn sie die Zigaretten nicht in der Eile hätte am Automaten ziehen müssen, hätte sie ihm eine ganze Stange gekauft.
    Robert schloß die Augen. Er versuchte, alle sonstigen Gedanken abzuschalten und sich einzig auf sein Thema zu konzentrieren, ganz wie er es von seiner Arbeit gewohnt war, nur daß es jetzt nicht um eine Plastik ging, sondern um Lee als Person. Wenn er sich Lee als Skulptur vorgestellt hatte, dann assoziierte er vor allem Begriffe wie Anmut und Kraft, manchmal wahlweise, manchmal gleichzeitig. Anmutig war Lee ohne Zweifel gewesen. Er konnte sich nicht erinnern, daß sie jemals eine unbeholfene Bewegung gemacht hätte; ihr Gang war fast schwerelos. Aber wie war das mit der Kraft? Doch, auch die hatte sie besessen, eine ganz eigene Kraft, die er nicht verstand.
    Endlich fing er an zu schreiben (er fand seine Aufzeichnungen fragmentarisch, doch das hatte den Vorteil, daß er beliebig vor- und zurückblenden konnte):
    Mitanzusehen, wie sie vor meinen Augen dahinwelkte, das hat mir angst gemacht, das war an sich schon wie ein schleichender Tod. Man spricht immer davon, daß eine Frau aufblüht durch die Liebe, die Geburt eines Kindes.
    229
    Bei Lee war das nicht so. Was nicht heißen soll, daß ich versuchen möchte, meine Tat in irgendeiner Weise zu entschuldigen.
    Mußte er diesen schauderhaften letzten Satz hinschreiben? Ach, er konnte ihn ja später wieder streichen. Für wen waren diese Aufzeichnungen eigentlich bestimmt?
    Bis auf ein paar mittelmäßige Aufnahmen von dem Baby hatte sie das Fotografieren völlig aufgegeben. Aber was kann man mit einem Kleinkind schon anfangen? Gemessen an Lees früherem Gespür für die Persönlichkeit, den Intellekt, die Tragödie des menschlichen Antlitzes – gar nichts. Statt ihrer wertvollen Fotoapparate hätte sie jetzt genausogut eine billige Kleinkamera benutzen können. Die Fotoausstellungen in Indianapolis und Chicago interes-sierten sie nicht mehr. Früher haben wir kaum eine Vernissage ausgelassen, und wir kannten auch einige der Fotografen, die dort ausstellten, persönlich. Aber seit Lee sich so abkapselte, hörten deren Besuche bei uns allmählich auf.
    Dabei war das alles gar nicht einzusehen! Ich erinnere mich noch sehr deutlich an Lees Arbeiten, die kurz vor und gleich nach unserer Hochzeit entstanden sind. Sagenhaft!
    Und wie leicht ihr alles von der Hand ging! Faszinierend!
    Ich dachte, ich wäre der Grund für ihren künstlerischen Niedergang, ja ihren Zusammenbruch, weshalb ich ihr anbot, mich zurückzuziehen und sie aus der Ferne zu unterstützen, bis sie vielleicht einen anderen fände, mit dem sie ihr Leben teilen wolle. Doch das hat sie abgelehnt und…
    Hier stockte Robert. Plötzlich stand ihm wieder das 230
    Wohnzimmer an jenem letzten Abend vor Augen, mit Lees Vergrößerungen an den Wänden, ihren gelungenen Arbeiten von früher, Porträts, Architekturstudien. Nein, sie hatten nicht gestritten. Lee war hin und her gegangen und hatte von Alltäglichem gesprochen – daß Fred Muldaven angerufen habe, ein Freund von Robert, der in Chicago wohnte, ein Maler. Melinda lag in ihrer Wiege in der Küche. Es war zwischen sechs und sieben. Robert befand sich in einer ganz merkwürdigen Stimmung, das spürte er selbst, während er Lee ansah, aber nur mit halbem Ohr hörte, was sie sagte. Er war gerade aus Chicago zurückgekommen, und vielleicht hatte er ein kaltes Bier getrunken, direkt aus der Dose.
    »Bei Beecham gibt's runtergesetzte Boots«, hatte Lee gesagt, »und du könntest gut ein Paar neue gebrauchen.
    Die da sind ja nicht mehr zum Ansehen.«
    Für ihn war das einfach nur langweiliges Gerede und völlig unwichtig gewesen. Noch vor ein paar Jahren hätte Lee nicht einmal gemerkt, ob seine Boots verschlissen waren oder seine Schuhe ungeputzt. Damals erfüllten selbst die ältesten Lumpen noch ihren Zweck, und mitunter war es auch ganz nett, sich feinzumachen, aber das war doch kein Gesprächsthema! Warum sollte er sich anstrengen, den Leuten zu gefallen oder sie nicht mit seinen ausgelatschten Boots zu vergraulen?
    Trotzdem war an dem Abend nichts vorgefallen, was dem berühmten letzten Tropfen gleichgekommen wäre.
    Vielmehr machte sich eine düster-hoffnungslose Stille

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