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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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Tage, da er in Chicago Unterricht hatte und spätestens um sieben aufstehen mußte, hatte Robert sich von zu Hause abgesetzt. Er hatte Lee einen Zettel hingelegt, auf dem stand, daß er Tony anrufen würde. »Versuch es«, hatte Robert geschrieben. »Sieh zu, ob Du Tony nicht genauso lieben kannst, wie er Dich liebt. Wenn nötig, erreichst Du mich über die Akademie. Aber bitte versuch es, sagen wir einen Monat, ja? Womöglich stellst Du dann fest, daß Du mit ihm glücklicher bist.«
    Robert hatte sich in der Nähe der Akademie ein möbliertes Zimmer genommen. Für den Fall, daß es mit Tony nicht klappen sollte, hatte Robert daran gedacht, sich einen Gebrauchtwagen zuzulegen und das gemeinsame Auto, mit dem er nach Chicago gefahren war, Lee zu überlassen. Einen Führerschein hatte sie. Natürlich lief sein Plan, langfristig gesehen, auf Scheidung hinaus. Er glaubte, das sei für beide das Beste. Notfalls würde sich ein anderer Tony finden lassen. Einstweilen aber sehnte er sich nach seinem Arbeitszimmer daheim, nach seinem Modellierton, ein paar angefangenen Arbeiten.
    Tony hatte am Telefon gefragt: »Aber was ist passiert, Bob? Gab's Krach zu Hause? Sie klingen so ernst.«
    »Kümmern Sie sich einfach ein bißchen um Lee. Nein, wir haben uns nicht verkracht. Es handelt sich um eine Art Trennung auf Probe.« Schockiertes Schweigen am anderen Ende. »Kann sein, daß Lee Sie lieber mag.«
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    »Aber nein!« Tony ging prompt in die Defensive.
    »Wenn Sie mir unterstellen… Da sind Sie völlig auf dem Holzweg, Bob.«
    »Versuchen Sie Ihr Glück. Auf meine Verantwortung.«
    Und Robert hatte aufgelegt.
    Am darauffolgenden Sonntag erhielt Robert gegen acht Uhr abends ein Telegramm von Lee:
    KANN DICH NICHT BEGREIFEN. BITTE KOMM HEIM. BIN SO
    UNGLÜCKLICH. LEE.
    Am Freitag hatte Robert ihr seine Adresse geschickt.
    Vermutlich war sie tags darauf mit der Morgenpost bei ihr angekommen. Er hatte weder den Namen seiner Wirtin angegeben noch die Telefonnummer, darum hatte Lee wohl den einfachsten Weg gewählt und ein Telegramm an die genannte Adresse geschickt. Robert fand es unter seiner Tür durchgeschoben, als er vom Abendessen zurückkam.
    Und damit war es aus. Nach kurzem innerem Kampf hatte Robert sich ins Auto gesetzt und war nach Hause gefahren. Der Gedanke an eine unglückliche Lee – sei es, weil sie einsam war, weil sie Tony nicht mochte oder weil der sie anödete oder ihr auf die Nerven ging –, der Gedanke war ihm unerträglich. Robert war bereit gewesen, Mrs. Kleber die Miete für die ganze Woche zu überlassen, aber sie berechnete ihm nur einen Tag extra und gab ihm das restliche Geld zurück.
    Lee hatte ihn mit den Worten empfangen: »Was ist los, Bob? Und Tony! Was hast du dir nur dabei gedacht? Ich hab nie gesagt, daß ich Tony mag.«
    Robert hatte Tony nicht angetroffen, als er nach Hause 224
    kam. Tony war offenbar zuvorkommend gewesen und hilfsbereit, aber Lee wollte ihn nicht.
    Erschöpft sank Robert auf seine Pritsche, und für das zeitige Abendbrot mußte man ihn wecken. Bestimmt hatte ihm der Wärter vor etlichen Stunden auch ein Mittagessen aufgedrängt. Erinnern konnte er sich nicht daran; sicher hatte er um diese Zeit mit offenen Augen geträumt.
    »Wenn ich doch wenigstens ein Radio hätte!« seufzte Robert. Er hätte sich sonstwas angehört, nur um seine Gedanken von Lee und sich abzulenken. Es wurde früh dunkel, jetzt im Dezember. Um müde zu werden und schlafen zu können, tigerte Robert unverdrossen in seiner Zelle auf und ab.
    Am nächsten Tag um halb zwei kamen seine Eltern.
    Robert durfte in einem Nebenraum mit ihnen sprechen.
    Dort standen ein Tisch und ein paar Stühle, und Robert war der einzige Häftling im Besucherzimmer. Allerdings gab es, soweit er feststellen konnte, in dem Gefängnis auch nur drei Zellen.
    Seine Mutter war sehr nervös und sah aus, als habe sie geweint. Mrs. Lottman war mittelblond, sie trug ein grünes Tweedkleid und darüber einen Schaffellmantel. Sein Vater war genauso groß wie Robert, eins achtzig, ein Mann von fünfzig Jahren mit energischer Kinnpartie, ein logischer Denker. Robert wußte, was die heruntergezogenen Mundwinkel zu bedeuten hatten. Sein Vater war verstimmt, er verstand nicht, was passiert war, würde sich stur stellen.
    Genauso hatte er Robert früher angesehen, wenn er ihm seine harmlosen kindlichen Verfehlungen vorhielt. Heute hatte der Vater allen Grund, böse zu sein.
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    »Bobbie, du mußt uns ehrlich sagen, was war«, sagte seine

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