Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
Vom Netzwerk:
heute ein Tag wie jeder andere und er nicht im geringsten nervös wäre oder es besonders eilig hätte fortzukommen, obwohl Roger Hoolihans blutiger Leichnam hinten im Lager zusammengepfercht in dem Spind mit den Ersatzpostsäcken steckte. Wer würde ihn wohl finden?
    dachte Aaron. Mac, der Postmeister? Macs Sohn Bobbie?
    Einer von den Austrägern? Aaron war es gleich, wer die Leiche entdeckte.
    Er war fünfundfünfzig, mittelgroß, mit Bauchansatz und glatten schwarzen Haaren, die an den Schläfen langsam ergrauten. Seine Augen hinter den dicken, dunkel gefaßten Brillengläsern wirkten unstet und verschwommen. Den unsteten Blick hatte Aaron allerdings tatsächlich. Direkter Augenkontakt mit einem Gegenüber wurde ihm inzwischen immer unangenehmer. Er war rastlos und nervös, und er haßte seine Arbeit bei der Post, aber er war entschlossen 268
    durchzuhalten – wenn nicht in diesem, dann in irgendeinem anderen Postamt –, bis er pensioniert wurde und den verdienten Lohn für die lebenslange Plackerei einstreichen konnte.

28. September 19-
    Heute habe ich Roger Hoolihan getötet. Kurz nach zwölf, wie ich es geplant hatte. Die anderen waren in der Mittagspause. Ich hätte um zwölf gehen sollen, Roger um eins. Er hatte zwischen zwölf und eins Schalterdienst.
    »Na«, sagte Roger gegen zwanzig nach zwölf mit einem Blick über die Schulter und seinem gewohnt spöttischen Grinsen, »gehen Sie nicht zum Essen?« Er stand am Schalter und sortierte die Postanweisungen. Ich griff mir den Tacker und zog ihm damit eins über den Hinterkopf.
    Wahrscheinlich hat ihm schon der erste Hieb den Schädel gespalten, trotzdem habe ich mehrmals zugeschlagen.
    Dann schleifte ich ihn nach hinten und packte ihn zu den Postsäcken in den Spind. Ich war nicht zum Essen zu Hause wie sonst, aber ich bin vor eins gegangen und ungefähr um eins zurückgekommen, zusammen mit den anderen. Als Mac nach Roger fragte (das war gegen zwei), sagte ich: »Den habe ich nicht mehr gesehen, seit ich kurz nach zwölf in die Mittagspause bin. « Mac schien sich zu wundern, aber gesagt hat er nichts. Wahrscheinlich wird er morgen früh bei ihm zu Hause anrufen, wenn Roger nicht zur Arbeit erscheint, oder vielleicht sucht ihn die Familie auch schon heute abend, wenn er nicht heimkommt. Aber bis sie die Leiche finden, kann es ein paar Tage dauern, denn der Spind wird nicht oft benutzt.
    Roger Hoolihan. Nummer eins.
    269
    Aaron legte seinen Stift in den Falz der Kladde, rieb sachte die Handflächen aneinander und überlas, was er geschrieben hatte. Seine Handschrift war sehr klein und sauber, die Tinte schwarz. Mac war als nächster dran.
    Diese selbstzufriedene Visage gehörte ausgelöscht. Weg mit dem hämischen Kopfschütteln, den Blicken, die an einem abglitten, als ob alles und jedes, was Mac unter die Augen kam, das Allerletzte wäre und nicht wert, daß der große Edward MacAllister, Postmeister, auch nur eine geringschätzige Bemerkung daran verschwendete. Aber Bobbie konnte sich jeden Pfusch leisten, bei ihm war's okay, denn Bobbie war sein Sohn. »Dad, die
    Luftpostmarken zu sieben Cent, wo sind die? … Was dagegen, wenn ich früher gehe, Dad? Ich bin mit Helen verabredet.« Bobbie kam vielleicht als Nummer drei in Betracht. Sieh dich vor, Bobbie!
    Aaron trat wieder an die Spüle, bückte sich und holte hinter dem blauweiß karierten Vorhang unter dem Becken zwischen Chlorreiniger, Ammoniak und anderen Putz-mitteln eine Flasche Whisky hervor. Er schenkte sich ein großes Glas voll, warf ein paar Eiswürfel hinein und trank genüßlich ein paar Schluck. Dann öffnete er eine Dose Cornedbeefhaschee, gab den Inhalt in eine Pfanne und schlug, exakt in der Mitte, ein Ei darüber. Ganz flüchtig kam ihm der Gedanke, daß er sich zur Feier des Tages etwas Besonderes hätte gönnen können, wie ein Steak oder wenigstens ein Lamm- oder Schweinskotelett, aber der Gedanke währte wie gesagt nicht lange und vergällte ihm auch nicht die Freude auf sein bescheidenes Mahl. Seine Frau hatte sich früher immer lustig gemacht über seine 270
    Vorliebe für Cornedbeefhaschee; er habe die Gelüste eines Sträflings, pflegte sie zu sagen. Sein Gedächtnis schwankte sekundenlang zwischen einer Vera, die das lächelnd, und einer, die es hämisch angemerkt hatte. Womöglich war beides vorgekommen, nur zu verschiedenen Gelegenheiten.
    Am Ende hatte sie ihn sitzenlassen, und daß sie ihren Abgang voller Häme inszeniert hatte, stand außer Frage.
    Sei's drum, dachte

Weitere Kostenlose Bücher