Die Augen der Überwelt
ich, Ihr habt es getan«, entgegnete Cugel. »Habt nicht Ihr befohlen, Gift in den Wein zu geben?«
»Nein.«
»Ihr müßt sagen: ›Nein, Erhabenheit‹!«
»Nein, Erhabenheit.«
»Wenn nicht Ihr, wer dann?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht war das Gift für mich gedacht.«
»Oder für uns beide.« Cugel winkte einen Diener herbei. »Schaff Yodos Leiche fort.«
Der Diener seinerseits winkte zwei vermummten Unterdienern, die den bedauernswerten, sehr kurzzeitigen Haushofmeister aus der Halle schleppten.
Cugel nahm die Kristallkelche und starrte in die bernsteinfarbene Flüssigkeit, ohne jedoch seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Derwe Coreme lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und beobachtete ihn nachdenklich. »Ich bin verwirrt«, gestand sie nach einer Weile. »Ihr seid ein Mann, der die Lehre meiner Erfahrung übersteigt. Ich werde mir der Farbe Eurer Seele nicht schlüssig.«
Cugel gefiel diese bildhafte Redewendung. »Ihr seht Seelen in Farben?«
»So ist es. Das ist die Gabe, die eine Fee mir in die Wiege legte. Von ihr erhielt ich auch den schreitenden Schiffswagen. Nun ist sie tot, und ich bin allein. Ich habe keine Freunde oder einen Menschen, der meiner in Liebe gedenkt. So herrschte ich ohne Freude über Cil. Nun seid Ihr hier mit einer Seele von vielen wechselnden Farben, derengleichen mir noch bei keinem Menschen untergekommen ist.«
Cugel unterließ es, Firx zu erwähnen, dessen geistige Ausstrahlung, sich mit seiner vermischend, zweifellos den Farbwechsel verursachte, den Derwe Coreme bemerkte. »Dafür gibt es einen Grund, der in Bälde überwunden ist, das hoffe ich zumindest. Erachtet meine Seele inzwischen als von makellos reinem Leuchten.«
»Ich werde mich bemühen, es mir zu merken, Erhabenheit.«
Cugel runzelte die Stirn. Aus Derwe Coremes Ton und der Haltung ihres Kopfes schloß er auf kaum verhohlene Überheblichkeit, die ihn reizte. Doch blieb ihm reichlich Zeit, etwas gegen ihre Einstellung zu unternehmen, nachdem er erfahren hatte, wie das Amulett sich anwenden ließ, was vordringlich war.
Er lehnte sich zurück und sprach, als hinge er müßigen Gedanken nach: »Überall zu dieser Zeit, da die Erde stirbt, fällt einem so mancherlei Ungewöhnliches auf. Vor kurzem, in der Burg Iucounus, des Lachenden Magiers, sah ich ein gewaltiges Werk, das alle magischen Schriften aufführte und alle Arten von wundersamen Runen. Habt Ihr ähnliche Werke in Eurer Bibliothek?«
»Mag sein«, antwortete Derwe Coreme. »Der vierzehnte Garth Haxt von Slaye war ein eifriger Sammler und verfaßte eine umfangreiche Abhandlung darüber.«
Cugel klatschte in die Hände. »Ich möchte dieses wichtige Werk sofort sehen.«
Verwundert blickte Derwe Coreme ihn an. »Seid Ihr ein solcher Büchernarr? Bedauerlicherweise hat der achte Rubel Zaff gerade dieses Werk am Kap Horizont dem Meer übergeben.«
Mit säuerlicher Miene fragte Cugel: »Gibt es keine anderen Abhandlungen über dieses Thema?«
»Zweifellos«, antwortete Derwe Coreme. »Die Bibliothek nimmt den gesamten Nordflügel ein. Doch ist morgen nicht früh genug für Eure Forschungen?« Sie räkelte sich und bot so ein augenbetörendes Bild.
Cugel nahm einen tiefen Schluck aus einem schwarzen Glaskelch. »Gewiß doch. Es besteht keine Eile. Und nun ...« Er wurde unterbrochen von einer Frau in vermummendem braunem Kuttengewand, offenbar eine Unterdienerin, die in diesem Augenblick in die Halle stürzte. Sie schrie mit sich überschlagender Stimme, und mehrere Diener eilten auf sie zu, um sie zu stützen. Zwischen heftigem Schluchzen gelang es ihr, den Grund ihres Herzeleids auszudrücken: Der Ghul hatte sich auf grauenvollste Weise mit ihrer Tochter beschäftigt.
Derwe Coreme deutete zuvorkommend auf Cugel. »Hier ist der neue Herrscher von Cil. Er verfügt über gewaltige magische Kräfte und wird die Vernichtung des Ghuls befehlen. Nicht war, Erhabenheit?«
Cugel rieb sich nachdenklich das Kinn. Welch verzwickte Lage! Die Frau und alle Diener warfen sich auf die Knie vor ihm. »Erhabenheit, wenn Ihr diese zerstörende Magie beherrscht, so setzt sie sogleich ein und macht diesem ruchlosen Ghul ein Ende!«
Cugel wand sich. Als er den Kopf drehte, bemerkte er Derwe Coremes nachdenklichen Blick. Er sprang auf die Füße. »Wozu brauche ich Magie, wenn ich mit dem Schwert umzugehen weiß? Ich werde diese schändliche Kreatur zerstückeln!« Er winkte den sechs Männern in den Bronzerüstungen. »Kommt! Nehmt Fackeln mit. Wir brechen auf,
Weitere Kostenlose Bücher