Die Augen des Drachen - Roman
dem Tauwetter im Frühling gefunden.
Aber um sieben Uhr an diesem Abend ließen Schneefall und Wind erst einmal ein wenig nach. Die Aufregung schien vorüber zu sein, und im Schloss begab man sich früh zu Bett. Man konnte auch wenig anderes tun. Man ließ die Feuer niederbrennen, die Kinder wurden zu Bett gebracht, man trank eine letzte Tasse Tee und sprach Gebete. Eines nach dem anderen wurden die Lichter gelöscht. Der Nachtwächter rief, so laut er konnte, dennoch riss ihm der Wind um acht und um neun die Worte förmlich vom Mund weg, und erst um zehn konnte man ihn wieder hören, aber da schliefen die meisten bereits.
Auch Thomas schlief - aber sein Schlaf war nicht ruhig.
In dieser Nacht war kein Dennis da, der bei ihm bleiben und ihn trösten konnte; Dennis war immer noch krank. Thomas hatte mehrmals daran gedacht, einen Pagen zu ihm zu schicken, der sich nach seinem Befinden erkundigen sollte, oder selbst zu ihm zu gehen (denn er mochte Dennis gut leiden), aber irgendwie war stets etwas dazwischengekommen - Dokumente waren zu unterschreiben … Petitionen anzuhören … und natürlich Wein zu trinken. Thomas hoffte, Flagg würde kommen und ihm das Pulver geben, das ihm beim Einschlafen half … aber seit seiner vergeblichen Reise in den Norden war der Zauberer seltsam abwesend und distanziert. Es war, als wüsste Flagg genau, dass etwas nicht stimmte, aber als könnte er nicht sagen, was es war. Thomas hatte gehofft, der Zauberer würde kommen, aber er hatte nicht gewagt, ihn zu rufen.
Wie immer erinnerte der heulende Wind Thomas an die Nacht, in der sein Vater gestorben war, und er fürchtete, dass ihm das Einschlafen schwerfallen würde … und dass ihn, war er erst einmal eingeschlafen, schreckliche Albträume heimsuchen würden, Träume, in denen sein Vater brüllend und tobend umherlief und schließlich in Flammen aufging. Daher tat Thomas das, woran er sich mittlerweile gewöhnt hatte; er verbrachte den ganzen Tag mit einem Glas Wein in der Hand, und wenn ich euch sagen würde, wie viele Flaschen der Junge trank, bevor er endlich um zehn zu Bett ging, würdet ihr mir das wahrscheinlich nicht glauben, daher lasse ich es lieber sein. Aber es waren eine Menge.
Als er elend auf dem Sofa lag und sich wünschte, Dennis würde an seinem üblichen Platz sitzen, dachte Thomas: Ich habe Kopfschmerzen und mir ist übel … Ist
König zu sein das wert? Das frage ich mich. Ihr fragt euch das vielleicht auch … aber bevor Thomas weiter darüber nachdenken konnte, war er eingeschlafen.
Er schlief fast eine Stunde … und dann stand er auf und schlafwandelte. Er ging zur Tür hinaus und die Flure entlang, und in seinem langen Nachtgewand sah er geisterhaft aus. In dieser Nacht sah ihn eine noch spät tätige Magd mit einem Stapel Wäsche auf dem Arm, und er ähnelte dem toten König Roland so sehr, dass die Magd ihre Wäsche fallen ließ und schreiend davonlief.
Thomas’ dunkel träumender Verstand hörte ihre Schreie und dachte, es wären die seines Vaters.
Er ging weiter in den wenig begangenen Gang. Auf halbem Wege blieb er stehen und drückte auf den geheimen Stein. Er ging in den Geheimgang, schloss die Tür hinter sich und ging zum Ende des Ganges. Er schob die Paneele zurück, die sich hinter Neuners Glasaugen befanden, und wenngleich er immer noch schlief, presste er den Kopf gegen die Wand, als wollte er durch die zwei Löcher ins Wohnzimmer seines Vaters sehen. Und dort wollen wir den unglücklichen Jungen eine Weile zurücklassen, wo ihn der schale Geschmack von Wein umgab und Tränen der Reue aus seinen schlafenden Augen quollen und seine Wangen hinabrannen.
Er war manchmal ein grausamer Junge, häufig ein trauriger Junge, dieser falsche König, und er war fast immer ein schwacher Junge gewesen … aber auch jetzt muss ich euch noch einmal sagen, ich glaube nicht, dass er jemals ein böser Junge war. Wenn ihr ihn wegen dem hasst, was er tat - und was er geschehen ließ -, so habe ich dafür Verständnis; aber wenn ihr ihn nicht auch ein wenig bedauert, dann würde mich das sehr überraschen.
111
Viertel nach elf in dieser entscheidenden Nacht hauchte der Sturm seinen letzten Atemzug. Ein unglaublich kalter Windstoß fegte über das Schloss hinweg. Er wehte mit einer Geschwindigkeit von mehr als hundert Meilen pro Stunde. Er riss die Wolkendecke am Himmel auf wie eine Riesenhand. Kaltes, wässriges Mondlicht schien hindurch.
In der Dritten Ostgasse befand sich ein niedriger Steinturm, welcher
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